Leipzig, 19. Juli 1899

       Lieber Freund!

Vielen Dank für die eingehenden Nachrichten über sich und die Züricher Verhältnisse. Ich war längst darauf begierig, einmal wieder von Ihnen zu hören. Freilich muss ich Ihnen gestehen, dass ich das Meiste, was Sie mir schreiben mit ernster Missbilligung gelesen habe. Es ist ja ganz schön, in der Lehrthätigkeit sein Bestes zu thun. Aber Sie handeln, wie ich meine, nicht richtig weder gegen sich, noch gegen die Allgemeinheit, wenn Sie über der wenig dankbaren Aufgabe, 2 fehlende Ordinarien zu ersetzen, zu keiner Arbeit kommen, die Ihnen in Zürich eine festere Position und nach außen hin die Möglichkeit des Fortkommens gibt. Rechnen Sie nicht allzu sicher auf Kym's eiserne Gesundheit! Leute [Seitenumbruch 1/2] über 80 Jahre pflegen umso plötzlicher zu sterben, je gesünder sie sind. Und wenn heute Kyms davon geht, so wird in den Augen der Menge, und natürlich auch der massgebenden akademischen Kreise Kreyenbühl den Vorzug selbständiger literarischer Arbeiten für sich haben, während von diesen Leuten, namentlich so weit es die Philosophie angeht, Zeitschriftenaufsätze nicht gerechnet werden, mag auch natürlich viel mehr Werth in ihnen stecken als in einem dickleibigen Buch. Wenn Sie also auf meinen dringenden Rath etwas geben, so lassen Sie es mit der Besprechung meines Systems - sei es für Vaihinger, sei es für eine andere Zeitschrift - ganz sein. Mit dem Feldzug gegen die Neu-Kantianer eilt es nicht, und jedenfalls ist es in diesem Augenblick für Sie ganz inopportun, ihn zu unternehmen. Schreiben Sie also Vaihinger einfach ab, um der Quälerei ein Ende zu machen. [Seitenumbruch 2/3] Wenn Sie aber in den Herbstferien etwas arbeiten wollen, so setzen Sie sich hin und arbeiten Sie Ihre hiesige Programmrede über englische Aesthetik oder so etwas kürzeres aus, das separat erscheinen kann. Und dann setzen Sie sich im nächsten Winter hin und arbeiten Sie einen Grundriss der psychologischen Pädagogik aus: Wenn Sie diese Dinge gemacht haben, dann können Sie Kreyenbühl und Consorten trotzen, - und dann haben Sie auch die Möglichkeit, überall in Deutschland anzukommen! Damit aber, dass Sie, wenn Kreyenbühl gewählt wird, nach dem Norden zögen, ist nicht nur nichts geschehen, sondern damit würden Sie sich nur vorzeitig pensionieren. Wir haben hier ein warnendes Beispiel solchen Rückzuges in dem Romanisten Settegast, der in Zürich Extraordinarius war und, weil man ihn nicht zum Ordi-[Seitenumbruch 3/4]narius machte, wieder hierher zurückging und nun seit Dezennien sein Dasein als Privatdozent fristet. Also zuerst eine Broschüre und ein Buch - dann Laboratoriumsarbeit u.s.w., und die Neukantianer lassen Sie vorläufig ganz in Ruhe! Scholastik muss es nun einmal in der Welt geben, und Sie werden sie nicht wegschaffen, so wenig wie ich es vermag. -
    Eine Dissertation von Gireff habe ich nicht bekommen. Auf Ihre letzte Frage muss ich leider antworten, dass es eine Möglichkeit nicht-sächsische Pädagogen zu gewinnen, für uns nicht mehr gibt. Nach unseren neuen Bestimmungen werden nur Sachsen, die mit der Note 1 vom Seminar abgingen, zugelassen.
    Nach der Schweiz kommen wir diesmal nicht, sondern zuerst geht es auf drei Wochen nach Oberhof, dann über Kiel an die Nordsee.
    Die Meinigen erwidern herzlich Ihre Grüsse und ich verbleibe in alter Treue

Ihr W. Wundt


[zurück] [Handschrift]