BEGRÜSSUNGSREDE

DES VORSITZENDEN DES WISSENSCHAFTLICHEN RATES FÜR PSYCHOLOGIE

BEIM MINISTERIUM FÜR HOCH- UND FACHSCHULWESEN DER DDR NPT Prof. Dr. sc. FRIEDHART KLIX

Magnifizenz! Hochansehnliche Festversammlung!

Es ist ein bedeutender Anlaß, der Psychologen von weither in dieser Stunde zusammengeführt hat.

Selten nur lassen sich Ort und Zeit für die Geburtsstunde einer Wissenschaft einigermaßen genau angeben. Ursprünge der einen verlieren sich in den Unkenntlichkeiten der Vorgeschichte, wie etwa die der Medizin. Andere sind aus den konturschwachen Fernen des Altertums kaum abhebbar, wie das bei der Astronomie der Fall ist. Wieder andere scheinen sich irgendwie eingeschlichen zu haben in den Kreis der Wissenschaften, so z. B. die Architektur oder die Mechanik. In manchen Fällen läßt sich auch eine ganze Menge von Gründungsereignissen angeben, je nachdem, welches Kriterium man für die Definition der Wissenschaftlichkeit einer Wissenschaft verwendet, wie sich das am Beispiel der Philosophie zeigen ließe. Und bei sehr strengen Kriterien müssen heutzutage sogar noch manche Disziplinen auf ihr Gründungsjahr als Wissenschaft warten. Hier möchte ich Ihnen die Beispiele selbst überlassen.

Bei der Psychologie hingegen scheint dieser Sachverhalt klar und durchsichtig. Wenigstens auf den ersten Blick. Und darum sind wir ja hier. Bei genauerem Hinsehen jedoch verzweigen sich auch die Anfänge der Psychologie. Es ist nicht der Flügelschlag eines Gedankens gewesen, der sie ins Leben gerufen hat, wie Zeus im Mythos die Pallas Athene. Die Entstehung der Psychologie als gegenständliches Resultat des Wissens um die Natur des Menschseins hat ihre Geschichte, die lang ist und ins Altertum reicht; und sie hat ihre Entwicklung begonnen, die jung ist, eben 100 Jahre alt, aber die auch Reflex ist von sozialen Strömen, Widersprüchen und Lösungsversuchen im geistigen Widerschein dieser gesellschaftlichen Kräfte. Bedeutsame Wissenschaftsereignisse im 18. und 19. Jahrhundert lassen sich vom heutigen Standpunkt aus wie Vorversuche zur Herausbildung der Psychologie deuten. Wie die Amöbe ihre Scheinfüße einmal dahin, einmal dorthin fließen läßt und dabei im ganzen Bewegung zustande bringt, so fließen aus den gesellschaftlichen wie geistigen Strömen der Jahrhunderte Gedankenverzweigungen, deren Spitzen in späterer Zeit den Standort für neue Formgebungen auch in Gebieten wissenschaftlichen Denkens verursachen.

Die Große Französische Revolution hatte wie ein Sturm ganz Europa geschüttelt. Zwar wurden viele ihrer Vorbereiter auf den Thronen der Philosophie zuvörderst von Altersschwäche dahingerafft; die Ausläufer ihrer Ideen jedoch waren zu gärenden Gedanken in nachfolgenden Generationen geworden. Ideen hätten Massen ergriffen und waren so zu Gewalt geworden auch in Gebieten der Wissenschaft.

Fort wirkten so die Gedanken des Sensualismus in der Erkenntnistheorie. "Nihil est in intellectu quod non ante fuerit in sensu" ist als erkenntnistheoretisches Credo John Lockes philosophischer Vorläufer der Lehre von den Funktionen der Sinnesorgane geworden.

Fort wirkten die Gedanken des französischen Materialismus. Grobschlächtig zwar in der Ausführung, aber klar doch im Ansatz: Gehirn und Seele sind nicht zu trennen. Psychische Vorgänge haben eine materielle Basis.

Fort wirkten schließlich die Gedanken auch in der klassischen deutschen idealistischen Philosophie. Bedeutungsvoll wurden sie für das Herauszwängen der Psychologie aus dem Schoße der Philosophie auch dort, wo der große Irrtum oder auch der Irrtum von Großen zum Widerspruch herausforderte. Wie dachte doch Immanuel Kant 1786 in den "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft"? Er schrieb 1786: "Noch weiter aber als selbst Chemie muß empirische Seelenlehre jederzeit von dem Range einer eigentlich so zu nennenden Naturwissenschaft entfernt bleiben, . . . weil Mathematik auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar ist." Und weiter fast wörtlich: Niemals kann Seelenwissenschaft einmal psychologische Experimentallehre werden. Soviel zum Irrtum von Großen. Aber Irrtum muß erst als solcher erkannt werden, damit er umgangen werden kann. Das war kein gerader Weg für die Psychologie. Das erste starke Nein gegen den großen Weisen aus Königsberg kam von Johann Friedrich Herbart. Er zeigte in seinen Ideen zur Vorstellungsmechanik, daß mathematische Aussage und psychologische Erfahrung zusammengehen können. Wenigstens im Prinzip. Im Detail fehlte auch er weithin. Wir wissen heute warum: Die Erarbeitung einer exakten Datenbasis für psychische Phänomene war noch nicht erschlossen. Phänomenologische Psychologie konnte und kann die Unumstößlichkeit experimentell begründeter Erkenntnis weder erreichen noch ersetzen. Dies eben ist es, was die Suggestivität des Experiments ausmacht. Der Einschnitt in der Wissenschaftsgeschichte an diesem Punkt ist tiefgehend. Über zwei Jahrtausende war im wissenschaftlichen Denken nur die Suggestivität der logischen Schlüsse als Erkenntniskriterium anerkannt. So wie dies von Aristoteles in seiner Topic vor allem begründet worden war. Mit und durch Galilei wurde das neue Instrument der Erkenntnistätigkeit, eben das Experiment, in das wissenschaftliche i. e. physikalische Arbeiten einbezogen. Als methodisches Prinzip ergriff es alsbald, über die Physik hinaus, weite Gebiete des wissenschaftlichen Denkens. Und nach der Wende zum 19. Jahrhundert begann es, die neuen biologischen Wissenschaften vom Menschen mit zu begründen.

Lassen Sie mich hier den Unterschied zwischen reinem schlußfolgerndem Denken und Rechnen einerseits sowie Experimentieren und Rechnen andererseits an einem Beispiel verdeutlichen.

Nicht nur Herbart, auch die Physiologen rechneten und berechneten zu Anfang des 19. Jahrhunderts nach Newtonschem Vorbild. So etwa Johannes Müller die Geschwindigkeit fließender Medien im Körper. Die Geschwindigkeit, so wurde in Analogie gedacht, sei umgekehrt proportional dem Durchmesser der Gefäßdicke. Nimmt man die Durchfließgeschwindigkeit in den großen Körperarterien zum Maßstab, so erhält man für die Nervenfaser eine Leitgeschwindigkeit von ca. 11 Mio Meilen in der Sekunde. Das ist das 60fache der Lichtgeschwindigkeit. So noch Johannes Müller.

Völlig anders ging H. v. Helmholtz vor, den man, so gesehen als den Galilei der Physiologie bezeichnen könnte: Über einem NervMuskelPräparat wurde ein Stromkreis geschlossen. Auf einer sich drehenden und berußten Papiertrommel schwang eine Stimmgabel, deren Frequenz bekannt war. Die Zeitpunkte des Stromschlusses und der Muskelzuckung wurden aufgezeichnet, die Länge der Nerven variiert. Das war alles. 80 m/s zeigten die Schwingungen der Stimmgabel; und sie tun das bei gleicher Nervenstärke bis heute; millionenfach in allen physiologischen Praktika der Welt.

Es ist diese Stabilität in den Antworten der Natur auf die Fragen des Experiments, diese Unabhängigkeit vom Meinen und Wollen des Experimentators oder kurzum:

Diese Objektivität der Erkenntnis, die das Experiment zum Prototyp wissenschaftlicher, genauer: naturwissenschaftlicher Arbeit gemacht hat. Der dies für psychische Tatbestände erschloß, war G. Th. Fechner. So wie Tycho Brahes Messungen einst die Datenbasis waren für die Keplerschen Gesetze, so waren es die in De tactu niedergelegten Messungen E. H. Webers, die die Grundlage für die Entstehung der Psychophysik hier in Leipzig gelegt hatten.

Diese vier Quellen: englischer Sensualismus, französischer Materialismus, deutsche idealistische Philosophie und Galileisch-Helmholtzsches Denken im Experiment waren es, die die wissenschaftsgeschichtliche Basis des Wirkens Wilhelm Wundts in seinen Anfängen bestimmt haben. Als Sensualist und Physiologe erweiterte er die Psychophysik zur Wahrnehmungslehre. Nicht mehr nur Schwellen und Empfindungszeiten standen im Mittelpunkt, sondern ebenso Formwahrnehmung und Nachbilder, Augenbewegung und Zeitwahrnehmung, Kontrast und j -Phänomene; und natürlich auch die vielgeliebten geometrischoptischen Täuschungen. Dabei waren die Experimente und Erklärungsansätze zur Farbwahrnehmung natürlich ebenso von den Antipoden Helmholtz-Hering geprägt wie die Augenbewegungserklärung der j -Phänomene gegen die Gestaltpsychologie gerichtet war. Wie immer bei Deutungen experimenteller Befunde, ist auch in Wundtschen Arbeiten manches zeitbedingt und überholt. Wenn es anders wäre, so könnte dies nur ein Zeichen der Stagnation im Erkenntnisfortschritt, nur ein Armutszeugnis für die Psychologie als Ganzes sein, deren Entwicklung doch durch Wundts Werk in starkem Maße in Gang gebracht wurde und eben dadurch auch zur Erkenntnis der Gültigkeitsgrenzen seiner Auffassungen führte. Und doch ist diese dialektische Relativierung des Experimentalwerkes zwar richtig, aber doch hinwiederum auch nicht wahr, um mit Hegel zu denken, denn die Wahrheit ist das Ganze.

Und zu dieser ganzen Wahrheit über den Experimentator Wundt gehört eben auch noch eine zweite Seite: die seines Fortwirkens über die Jahrzehnte.

Viele erleuchtende Gedanken von Psychologiehistorikern sind zu lesen über Leben und Wirken Wilhelm Wundts. Aber eine geschichtliche Analyse der geistigen Architektur dieses seinerzeit einzigartigen Laboratoriums muß wohl noch erarbeitet werden. Viel ist über bedeutende ausländische Schüler geschrieben worden. Bei uns haben Psychiater und Neurologen wiederholt ihrer Altvordern in Wundts Arbeitskreis gedacht. Ein würdigendes Wort sei daher in diesem Rahmen seinen einheimischen psychologischen Mitarbeitern gewidmet. Wenigstens wahlweise und bevorzugt dort, wo ihre Arbeiten weit in die Zukunft hineingewirkt haben: So wurden in den Experimenten von Merkel schon um 1883 wesentliche Inhalte des erst 1952 verbindlich formulierten Hickschen Gesetzes ausgedrückt. Kirschmann erkannte die nichteuklidische Struktur des menschlichen Wahrnehmungsraumes und dachte damit wesentliche Elemente der mathematischen Analysen Luneburgs voraus. In den Arbeiten Wirths schließlich finden sich Gedanken einer mehrdimensionalen psychophysischen Skalierung, wie sie erst heute in der Urteilsdiagnostik durchgearbeitet werden. Das alles ist ja auch Psychologie-Geschichte, die von Leipzig her ihren Ausgang genommen hat.

Vielmals, nachgerade allzuviel scheint mir, sind vorzugsweise die philosophischen Aspekte seines Denkens systematisiert, auf Ursprünge hin untersucht oder nach Einflüssen bedacht worden. Nur mehr großflächig wird dabei des Experimentators gedacht, sehr fein gestuft aber dem Lebenslaufe des Philosophen und seiner geistesgeschichtlichen oder auch anekdotischen Begegnungen. Wohl liegt dies auch daran, daß solche Analysen vor allem philosophischer Herkunft sind. Berechtigt ja auch, denn Wundt war ja Philosoph und Psychologe. Wie immer: die ganze historische Wahrheit bringt dies wohl doch nicht zutage. Denn Wundt stand eben nicht nur in der Tradition spekulativer Philosophien, sondern lebenslang auch in der Tradition Helmholtz' und Du BoisReymonds, Webers und Fechners.

Es mag schon sein, daß die Werke des späteren Lebens mehr ins Philosophische gehen und nicht mehr die Durchschlagskraft der naturwissenschaftlich begründeten Ideen der Jugendjahre hatten. Es ist doch wohl in einem überlangen wissenschaftlichen Leben immer so, daß die reifsten Jahre eines Gelehrten nicht auch die letzten seiner Produktivität sind. Freilich: Dies zu Kritik zu stilisieren, scheint mir verfehlt. So auch, wenn der junge strikt dem alten Wundt gegenübergestellt, der progressive Experimentator durch den sagen wir überalterten Philosophen verfremdet, der forsche Naturwissenschaftler dem geisteswissenschaftlichen Greis mit Schreibzwang gegenübergestellt wird. Unartigkeiten übrigens, die schon zu Lebzeiten geäußert worden sind. Gewiß: Manches Unklare, Ungenaue, Irrtümliche läßt sich finden: ob bei Gedankenexperimenten oder Denkmethodiken, bei sozialen Phänomenen oder Bedingungen ethnischer Erscheinungen.

Soziale wie kulturelle, motivationale wie kognitive Bedingungen erzwingen ja aber auch gerade, daß jeder denkende und handelnde Mensch in den Grenzen seiner Zeit oder genauer, in den sozialen Bedeutsamkeiten seines Motivsystems befangen bleiben muß. Um es zu verdeutlichen: Die Philosophen haben nie versucht, Leibniz Fehler in der Theodizee nachzuweisen. Und: Geradezu liebevoll findet man unter Physikern wie Philosophen begründet, warum Helmholtz nach der Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung der Energie immer noch Kraft und Energie ständig miteinander verwechselte. Ernsthafte Geschichtsforschung wird auch hier in der detaillierten Analyse und ohne Vorurteile wägend und wertend die Periodisierung eines bedeutenden Lebenswerkes durch dessen Inhalte und deren Wechsel festzustellen haben. Ich möchte dem hier nicht einmal mit Vermutungen vorgreifen. Gleichwohl sollte in solcher Gedenkstunde wenigstens der heuristische Versuch einer Antwort darauf gegeben werden, worin denn nun der Beitrag dieses Lebenswerkes in der Wissenschaft zu erkennen ist, der es schließlich und endlich ganz und gar gewidmet war? Ich glaube, folgendes läßt sich begründen :

Die große Leistung Wilhelm Wundts bestand darin, daß er über die schon vom Experiment erschlossenen Gebiete der Psychophysik hinaus das Zuständigkeitsfeld einer neuen Wissenschaft als Ganzes erkannte und erschloß: Physiologische Psychologie und sozial Bedingtes im Verhalten, Motivation und Kognition im Zusammenhang, Sprache und ethnische Phänomene der Völker als Ausdruck psychischer Gesetzmäßigkeiten, Emotionen und Phänomene des Willens, allgemeine und individuelle Erscheinungen, menschliche und tierische Verhaltensformen im Vergleich dies alles umspannte sein enzyklopädischer Geist und verband es zu einem Wissenskörper neuer und eigener Art, eben der Psychologie.

Nach Wundt begann die Periode der Schulenbildung. Neue Erklärungsansätze wurden entwickelt, zeitbedingt die einen, fundamental und nachwirkend andere. Max Wertheimer, der ingeniöse Ideenformer der Gestaltpsychologie, und Wolfgang Köhler als genialer Experimentator, fanden Grundgesetze der menschlichen Wahrnehmung und des Denkens. Kurt Lewin eröffnete der psychologischen Methodik eine neue Dimension: Die Einbeziehung sozialer Kräfte und Konstellationen in den Handlungs und Entscheidungsraum des Experiments. Viele weitere glanzvolle Namen ließen sich anführen aus den Reihen deutscher Psychologen, deren Erkenntnisse unserer Wissenschaft zur Ehre gereichen. Auch für diese spätere Periode erweist sich Wundts Wirken als bedeutungsvoll: Er hatte ein Paradigma für die Psychologie hinterlassen, dessen partielle Überwindung wirklichen Erkenntnisfortschritt eingeleitet hat, und zwar, wie es scheint, für viele der besten Köpfe einer ganzen Generation.

Die Psychologen der DDR sind stolz darauf, daß sie sich mit ihrer Gesellschaft auf diese große geistige und ideelle Tradition berufen dürfen. In der historischen Besinnung auf den Fortgang der Geschichte in Deutschland und so auch der Psychologiegeschichte kann ich nicht schließen, ohne darauf aufmerksam zu machen, daß die Wahrung der fortschrittlichen und humanistischen Güter ebenso wie Frieden und Verständigung unter den Völkern letzte Ziele praktischer Bewährung jedweder und so auch psychologischer Erkenntnisse sind und bleiben. Wissen um die Geschichte und ihre tragenden Kräfte kann so zum bedeutsamen Imperativ für praktisches Handeln werden. Indem ich Sie willkommen heiße namens des Vorstandes der Gesellschaft und des Wissenschaftlichen Rates für Psychologie, möchte ich Ihnen für Ihre Beiträge zur Vertiefung und Verfeinerung unseres psychologiegeschichtlichen Wissens danken. Ich wünsche Ihrem Symposium mit seinen Ergebnissen Erfolg und langdauerndes Gedenken.