HANS THOMAE, Bonn
Die Problematik der Interaktion motivationaler und kognitiver Prozzesse in der psychologischen Theorie von WILHELM WUNDT

Als Ergebnis einer ein halbes Jahrhundert umspannenden theoretischen Entwicklung wurde von BOLLES (1974) wie von BIRCH und ATKINSON (1974) eine radikale Änderung in der Einschätzung der Rolle motivationaler Prozesse für die Verhaltensteuerung vorgeschlagen. BOLLES (1974) glaubt sich berechtigt, die vielfachen motivational-kognitiven Konstrukte, wie sie in dem System von CANNON, HULL, PAWLOW, aber auch von TOLMAN erschienen, auf die Formel zurückzuführen, daß Verhalten die Funktion kognitiver Prozesse sei. BIRCH und ATKINSON (1974) formulierten im gleichen Zusammenhang die These 'thought directs action'. Im Bochumer Arbeitskreis zur Erforschung von Leistungsmotivation hat MEYER (1976) schließlich jede Form von affektiv-emotionaler Basis leistungsbezogenen Verhaltens als "hedonistisch" gebrandmarkt und die These vertreten, derartiges Verhalten sei einzig auf die Ausbildung und Bestätigung des eigenen Begabungskonzepts gerichtet. Im Sinne der von WUNDT vorgenommenen Klassifikation von Handlungstheorien wäre somit festzustellen, daß die Gegenwart Im Zeichen "intellektualistischer" Willenstheorien (Grundzüge 3, S. 298) steht. WUNDTS 'emotionale Willenstheorie' erscheint im Zeitalter des totalen Kognitivismus der Psychologie ebenso überholt wie McCLELLANDS ursprüngliches Konzept der Leistungsmotivation, dessen affekttheoretische Basis ohne des Autors Wissen viel von WUNDTS Affekttheorie in die Gegenwart übertrug.

In der Philosophie wird z.B. von OESTERREICH (1923) - WUNDT als 'Voluntarist' eingeordnet, wobei die Argumentation im wesentlichen darauf hinausläuft, WUNDT habe darauf verweisen wollen, daß das Wollen "mit den ihm eng verbundenen Gefühlen und Affekten einen ebenso unveräußerlichen Bestandteil der psychologischen Erfahrungen ausmache wie die Empfindungen und Vorstellungen, und daß nach Analogie des Willensvorganges alle anderen psychischen Prozesse aufzufassen seien: als ein fortwährend wechselndes Geschehen in der Zeit, nicht als eine Summe konstanter Objekte" (OESTERREICH, K. 1923, S. 353). Während im ersten Teil des Satzes eine "sowohl als auch-Lösung" des Problems der Rollenanteile kognitiver und motivationaler Prozesse bei der Handlungsregulation angeboten wird, wird der motivationale Anteil in der zweiten Äußerung ganz entschieden hervorgehoben. Die Aktualität psychischer Prozesse erscheint in den Willensvorgängen am deutlichsten repräsentiert - und nicht nur das: auch die Kontinuität psychischer Entwicklung scheint gerade im Übergang von Gefühl, Affekt, Trieb zur Willenshandlung am deutlichsten erweisbar. Es bedarf nach WUNDT keiner heterogenetischer, d. h. auf Empfindungen und Vorstellungen verweisender Erklärungen des Wollens (Grundzüge, 3, S. 262).

Willensvorgänge werden als Affekte, Affekte als bestimmte Gefühlsverläufe und Kombinationen umschrieben. (a. a. O., S. 221 ff.). Allerdings werden Differenzierungen vorgenommen. So wohne in Willenshandlungen den sie tragenden affektiven Verläufen eine Zweckrichtung inne, welche die schließliche Affektlösung als eine Zweckerfüllung erscheinen lasse. Diese "Zweckrichtung" ist zweifellos ein kognitives Element, das die als Willensverläufe charakterisierten Affektformen von den übrigen abhebt. Aber es ist keineswegs das einzige konstitutive Merkmal. Eine Verbindung von Spannungsempfindungen und Tätigkeitsgefühlen ist ein noch wesentlicheres Merkmal. Vorstellungen können in die Affektverläufe, welche die Basis des Verhaltens bilden, stets eingebettet sein. Aber letzten Endes erscheint der Wille als ein Totalgefühl, "das aus den Partialgefühlen der Spannung und Erregung zusammengesetzt, im allgemeinen einen regelmäßigen und in sich geschlossenen Verlauf hat" (Grundzüge, 3, S. 230).

Das theoretische System von WUNDT war insofern nicht durch eine kognitive, sondern durch eine emotionale Orientierung gekennzeichnet. Welche theoretischen Alternativen im Zusammenhang mit seiner Willens-, Affekt- oder Handlungstheorie auch behandelt werden, die von ihm präferiert wird stets als eine emotionale Theorie eingeführt. Da Gefühle und Empfindungen nach WUNDT die Bauelemente des Psychischen darstellen, ist die Entscheidung zugunsten der Emotionalität wohl letztlich auf eine vorwissenschaftliche Grundeinstellung zurückzuführen. Sie war von der Erfahrungswelt von SIGMUND FREUD zwar denkbar weit entfernt. In der Grundhaltung sind aber die Differenzen gar nicht so groß. Den Anfang der sexuellen Entwicklung stellt nach WUNDT z. B. ein aus einer angeborenen Anlage heraus sich entfaltender "Komplex von Gefühlen und Affekten dar, aus denen sich dann allmählich, unter der Wirkung äußerer Eindrücke, bestimmte Motive herausbilden" (a.a.O., S. 262). Kognitive Vorgänge haben dabei keine leitende Funktion. So wird der Sexualtrieb "nicht von den Vorstellungen beherrscht, sondern er bemächtigt sich gewisser Vorstellungen, die sich zufällig der individuellen Wahrnehmung darbieten. In dieser Unbestimmtheit des ursprünglichen Triebes liegt zugleich der Kern zu den mannigfachen Verirrungen, denen er unterworfen ist". (Grundzüge, S. 262). Man glaubt fast, einen Satz aus einer FREUD'schen Publikation zu hören, wenn man nicht wüßte, daß auf diesem Symposion ja nur von WUNDT die Rede ist. Der emotional-affektive Komplex, welcher die Grundlage der ausgebildeten sexuellen Motive bildet, bemächtigt sich gewisser Vorstellungen, er wird nicht durch diese ausgelöst oder gebildet. Vorstellungen (kognitive Prozesse) können nach WUNDT für sich allein niemals einen Willensakt auslösen, also das Verhalten bestimmen (Ethik, 3, S. 8). Ist hier nicht der 'new look' in der Wahrnehmungspsychologie der 40er Jahre vorweggenommen? Das aktualisierte Hungergefühl bemächtigt sich der diffusen Reize, die dargeboten werden und deutet sie im Sinne der Wunscherfüllung (zusammenfassend GRAUMANN 1966). Die größere Relevanz, die Münzen für Kinder ärmerer Schichten besitzen, akzentuiert die Wahrnehmung ihrer Größe (BRUNER u. POSTMAN 1947). Nicht nur die Betonung der motivationalen Steuerung kognitiver Prozesse, auch die These von der allmählichen Ausgliederung der gegenständlichen Wahrnehmung aus solchen emotional-affektiven Komplexen ist bei WUNDT vorweggenommen, freilich ohne jene metaphysisch-strukturtheoretische Überdeutung, die sie dann bei Nachfolgern wie FELIX KRUEGER und FRIEDRICH SANDER erfahren sollte. Weder in dieser Fortführung seiner Arbeit noch in den Nachuntersuchungen zu dem Klassifikationssystem der Gefühle, wie sie von WOODWORTH (1938), SCHLOSBERG (1941), TRAXEL (1962), IZARD (1977) und anderen vorgenommen wurden, fand das entscheidende entwicklungspsychologische  Kernstück der WUNDTschen Willenstheorie Berücksichtigung. Ausgangspunkt ist dabei die Erklärung angepaßten Verhaltens  von Mensch und Tier nicht über reflexologische Annahmen, sondern durch Rückgriff auf ein Triebkonzept, das umschrieben wird als angeborene Verbindung von unbestimmten Affektzuständen mit Körperbewegungen, die auf Lustgewinn und Unlustmeidung gerichtet sind. Das angenommene Vorhandensein der affektiven Innenseite unterscheidet die Triebhandlung vom Reflex, der seinerseits als gewohnheitsmäßige und kortikal nicht mehr kontrollierte Anpassungsform umschrieben wird. Die Richtung auf Lust - Unlust wird als "Motiv" der Triebhandlung angesehen, die von hier aus gesehen kaum Unterschiede zur Willenshandlung aufweist. Es wird somit eine ererbte Organisation affektiven, emotionalen und motorischen Ansprechens auf bestimmte Auslösereize angenommen und damit das ganze System mit evolutionstheoretischen Hypotheken belastet.
Aber auch hinsichtlich der Ontogenese werden sehr weitgehende Annahmen formuliert. Mit jeder Ausführung einer Handlung wird sich bei der Wiederholung eine Vorstellung des Erfolges einstellen und damit die  Triebhandlung zur Willkürhandlung werden. Mit zunehmender Wiederholung der Handlung wird diese antizipierende Vorstellung, u. U. sogar der affektive Begleitton wegfallen, die Handlung wird automatisiert, wie dies in zahllosen Reaktionsexperimenten gezeigt wurde. Mit zunehmender Umrahmung des affektiven Ausgangsgeschehens durch antizipierte Geschehnisse, insbesondere aber bei Eintreten konkurrierender Motive wird die Willkürhandlung dagegen zur Wahlhandlung, die durch eine besonders große Anzahl von Vorstellungen samt den an sie gebundenen Gefühlen gekennzeichnet sind. Insofern kann man sagen, daß kognitive Vorgänge vor allem bei komplexen Motivationsprozessen, wie sie der Wahlhandlung vorhergehen, bedeutsamer werden, allerdings auch dann nur in einer engen emotionalen Umklammerung. Auch bei dem zentralen Vorgang der Apperzeption, der zur maximalen Klarheit der Vorstellung führt, heißt es, daß sie im Grunde einen elementaren Willensakt und konstituierenden Bestandteil aller Willensvorgänge darstelle. Das Wichtigste aber ist die These von der Kontinuität der Vorgänge: je nach Situation kann sich eine einfache Willkürhandlung, die von einer Triebhandlung kaum zu unterscheiden ist, zu einer komplexen Wahlhandlung entwickeln. Ist die Wahl dagegen häufiger getroffen worden, wie bei einem länger dauernden Mehrfachreaktionsversuch, dann wird die Wahl automatisiert und das Geschehen schließlich die Qualität des Reflexologischen annehmen.
Insgesamt bleibt als Fazit dieser Analyse der motivationspsychologischen Beiträge von W. WUNDT nur die Feststellung einer großen Distanz der gegenwärtig auf diesem Gebiet herrschenden Lehrmeinungen und der Grundüberzeugungen und Argumentationen von WUNDT in dieser Hinsicht. Man kann die voluntarisch-emotionale Position WUNDTS geistesgeschichtlich deuten als Widerspruch gegen eine sensualistische Assoziationspsychologie, die als Abhebung gegenüber HERBART oder gegenüber dem naiven Materialismus des Leipziger Physiologen LUDWIG. Es bieten sich aber auch biographische Hintergründe dieser Betonung der emotional-affektiven Wurzel menschlichen Verhaltens an, die teils durch WUNDTS soziales und vorübergehendes politisches Engagement, teils durch seine nicht immer erfreuliche Heidelberger Situation, teils durch schwere gesundheitliche Belastungen im jüngeren Erwachsenenalter bedingt waren. Auf jeden Fall scheint die Annahme nicht unberechtigt, daß manche Erscheinungsformen, um nicht zu sagen, Auswüchse der modernen kognitivistischen Psychologie von dem Gründer des ersten Universitätsinstitutes als Ergebnis einer wissenschaftlichen Einstellung gewertet würde, welche "Abstraktionen" an die Stelle sehr individuell gedachter und beschriebener Emotions-Affekt-Kognitions-interaktionen setzt. Auch manche motivationalen Konstrukte von heute, die man methodisch sicher im Griff hat, würden wahrscheinlich beim Gründer des Faches Bedenken hervorrufen. Denn - außer bei WILLIAM JAMES - ist eigentlich kaum einmal später der Prozess-Charakter des Psychischen, der Übergang vom Einfachen zum Komplexen und von dort zurück zum Einfachen (wie der automatisierten Handlung) so prägnant hervorgehoben worden. Vorweggenommen wurde auch manche Einsicht in die Lern- oder Sozialisationsgeschichte von Motiven, die als "letzte Ausläufer einer Kausalreihe" bezeichnet werden, "die unserer Wahrnehmung nur unvollständig zugänglich ist, weil sie schließlich in die gesamte Vorgeschichte des individuellen Bewußtseins und die diese Geschichte bestimmenden Bedingungen zurückreicht. Jede, auch die einfachste Willenshandlung ist so Endglied einer unendlichen Reihe, von der uns nur die letzten Glieder gegeben sind" (Ethik, 3, 11).

Hier sind Ansätze zu einer Bedingungsanalyse des Verhaltens formuliert, welche die Sozialisationstheorie der Motivation ebenso vorwegnehmen wie die historische Analyse des Bewußtseins. Freilich, im Gegensatz zur Wahrnehmungslehre und zur Lehre von den Dimensionen der Elementargefühle ist die Motivations- und Willenspsychologie von WUNDT weder experimentell noch empirisch fundiert worden. Deshalb wurde dieser Aspekt seines Lebenswerks wohl auch meistens ignoriert. Die Gründe für den Verzicht auf empirische Fundierung dieser Aussage sind sehr vielfältig; sie beziehen sich auf WUNDTS generelle Einschätzung der Aussagefähigkeit der experimentellen Methode ebenso wie auf sachliche Schwierigkeiten. Den Konflikt zwischen einer Behandlung der Motivationsproblematik im Rahmen des methodisch Möglichen und des sachlich Gebotenen entschied WUNDT im Sinne der letztgenannten Alternative. Dies mag zu mancher problematischen Entwicklung des Leipziger Instituts in den Zwanziger und Dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts beigetragen haben. Aber sowohl bei der Bewertung dieser Entwicklung wie bei jener von WUNDTS emotionaler Theorie der menschlichen Handlung sollte nicht vergessen werden, daß Psychologie als empirische Wissenschaft vor allem Wissenschaft von psychischen Prozessen und nicht eine solche von Vermögen, Eigenschaften oder eigenschaftsähnlich konstruierten Motivations- oder Kognitionskonstrukten konzipiert wurde. Zu den am Kymographion gewonnenen Kurven der Veränderung der physiologischen Begleiterscheinungen von Affekten erschien er gleichsam als der Prototyp der ständigen Veränderung, als welche psychisches Geschehen von ihm aufgefaßt wurde. Wir werden auf die von MAGDA B. ARNOLD, SCHACHTER und anderen gewonnenen Einsichten in die Bedeutung kognitiver Prozesse auf die Steuerung des Verhaltens nicht verzichten wollen. Aber mit einer Eliminierung der emotional-affektiven Aspekte unseres Verhaltens ist dabei ebenso wenig geholfen wie mit der Erfassung des Verhaltens von eigenschaftsähnlichen Konstrukten (wie etwa die Überzeugung von dem äußeren bzw. internen Ort der Kontrolle des eigenen Geschicks). Vielleicht hilft der Rückblick auf hundert Jahre Leipziger Institut daran zu erinnern, daß Motivationspsychologie vor allem eine Psychologie der dynamischen Vorgänge ist, die unserem Verhalten zugrundeliegen und keine Psychologie z. B. der Urteilsbildung über Ursachen von Erfolg  und Mißerfolg oder über die eigene Begabung.

BIRCH, D., ATKINSON, J. W. & BONGORT, K.: Cognitive control of action. In: B. WEINER (Ed.) Cognitive views of human Motivation. New York, Academic Press 1974, 71-84
BOLLES, R. C.: Cognition and motivation: some historical trends. In: B. WEINER (Ed.) Cognitive views on motivation. New York: Academic Press 1974 pp. 1-20.
GRAUMANN, C. F.: Nicht-sinnliche Bedingungen des Wahrnehmens. In: METZGER, W., Handbuch der Psychologie, Bd. 1, 1. Göttingen: Verlag für Psychologie 1966, 1031-1096.
IZARD, C. E.: Human emotions. New York & London: Blenum 1977.
MEYER, W. V.: Leistungsorientiertes Verhalten als Funktion von wahrgenommener eigener Begabung und wahrgenommener Aufgabenschwierigkeit. In: H. D. SCHMALT und W. V. MEYER (Hg.) Leistungsmotivation und Verhalten. Stuttgart: Klett 1976, S. 101-136.
SCHLOSSBERG, H. S.: Three dimensions of emotions. Psychological Review 1954, 61, 81-88.
OESTERREICH, T. K.: Die Deutsche Philosophie des XIX. Jahrhunderts und der Gegenwart. Berlin: E. S. Mittler 1923.
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TRAXEL, W.: Grundzüge eines Systems der Motivierungen. Arch. ges. Psychol. 1962, 119. 143-172.
WOODWORTH. R. S.: Experimental Psychology. New York: Holt 1938.
WUNDT, W. : Ethik, 3. Bd., Stuttgart 1912, 5.A. 1924
WUNDT, W. : Grundzüge der Physiologischen Psychologie.3. Bd., Leipzig: Engelmann 1873/74, 6.A. 1908 - 1911.