WOLFRAM MEISCHNER, Leipzig
WILHELM WUNDT und die Psychologie

In der Geschichte der Psychologie kommt dem Lebenswerk Wilhelm Maximilian Wundts eine überragende Bedeutung zu. Es ist der erste große Entwurf, die Psychologie theoretisch-methodologisch und empirisch-experimentell umfassend zu begründen und sie zu einer Gesetzeswissenschaft zu entwickeln. In ihm verkörpert sich wie in keinem anderen der historische Weg der Psychologie zu einer emanzipierten und institutionalisierten Wissenschaft in ihrer Einheit von Lehre und Forschung, von Theorie und Methode, ja von einer großen psychologischen Idee und ihrer weitsichtigen Verwirklichung. Das ist uns Anlaß, dieser großen deutschen Gelehrtenpersönlichkeit ehrend zu gedenken, vor allem aber ihre psychologiegeschichtliche Bedeutung gebührend zu würdigen.

Als Wilhelm Wundt vor nunmehr einhundert Jahren begann, mit der Aufnahme "zeitmessender Untersuchungen" zur experimentellen Erforschung von "Verlaufsgesetzen psychischer Vorgänge" sein Programm einer wissenschaftlichen Psychologie zu verwirklichen, welches den historischen Erfordernissen seiner Zeit angemessen war, vollzog sich eine Wende in der Entwicklung unserer Wissenschaft (l). Ihr Ausmaß sollte sich alsbald in der sich entfaltenden weltweiten Wirksamkeit des im Herbst 1879 ins Leben gerufenen "Instituts für experimentelle Psychologie" an der Universität Leipzig manifestieren, das in seiner geistigen wie materiellen Substanz im wahrsten Sinne des Wortes ein Wundtsches Institut war. Dank der fortwährenden Bemühungen Wundts wurde es bereits im Jahre 1883 zu einem anerkannten staatlichen Universitätsinstitut. Ein planmäßiger Etat sicherte die Einstellung von Assistenten. So konnte die Wundtsche Lehr- und Forschungsstätte zur ersten Psychologenschule der Welt werden. Gelehrte, die in ihren Heimatländern psychologische Institute und Laboratorien aufbauten, Persönlichkeiten, deren Namen in der Geschichte der Psychologie, der Psychiatrie und anderer Wissenschaften einen guten Klang haben, sind aus dieser Schule hervorgegangen oder haben in ihr gearbeitet. Aus ihrem Wirken sind inzwischen wissenschaftliche Genealogien geworden, die es sich erklärtermaßen zur Ehre anrechnen, auf Wilhelm Wundt zurückzugehen. Allein, das, meine Damen und Herren, würde Grund genug sein, Wilhelm Wundt für immer einen Ehrenplatz in den Annalen der psychologischen Wissenschaft einzuräumen.
Bedeutung und Tragweite des Wundtschen Ringens für die Fortbildung der Psychologie zur exakten Wissenschaft erschließt sich uns jedoch erst dann in vollem Umfange, wenn es in Zusammenhang mit den historischen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens und der Wissenschaftsentwicklung des 19. Jahrhunderts gesehen wird.

Es läßt sich wohl nicht bezweifeln, daß mit der vollen Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise und der mit ihr verbundenen industriellen Revolution im vergangenen Jahrhundert die Entwicklung einer wissenschaftlichen Psychologie auf der Tagesordnung stand. Die Erschließung der produktiven Möglichkeiten der Menschen unter den Bedingungen einer sich sprunghaft entfaltenden industriellen Produktion und Verkehrstechnik erforderte eine subtile wissenschaftliche Erforschung der Erkenntnisprozesse und der Regulationsmechanismen des Handelns. So reflektiert sich in der Feststellung Ernst Heinrich Webers, daß es auch für den Menschen wichtig sei, "die ihm angeborenen Instrumente des Empfindens zu prüfen", ein gesellschaftliches Interesse seiner Zeit (2). Bekanntlich gingen von Ernst Heinrich Weber, den Wundt ehrend den "Vater der experimentellen Psychologie" nannte, bedeutsame Impulse zur Herausbildung einer experimentalpsychologischen Forschung in naturwissenschaftlichen Laboratorien aus (3). Es waren aber auch das gesamte nationale und internationale Leben mit seiner ganzen Widersprüchlichkeit betreffende Fragestellungen, auf die die Bourgeosie eine Antwort suchte und damit psychologisches Denken stimulierte und förderte, wie z. B. die Frage nach der Beherrschbarkeit gesellschaftlicher Kräfte im Klassenkampf, das Problem der Herstellung einer einheitlichen deutschen bürgerlichen Nation, Fragen des Kolonialismus u. dgl. m. So ist nicht verwunderlich, daß gerade im Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre völkerpsychologische Konzepte entwickelt werden, ja für Wilhelm Wundt war gerade diese Zeit "verführerisch genug", den Gedanken einer "vergleichenden Psychologie der Rassen und Völker" aufzugreifen und einen ersten - wenn auch später widerrufenen - Versuch einer psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit zu wagen. (4) Während die Völkerpsychologie ideengeschichtlich in der Volksgeistlehre des 18. Jahrhunderts verwurzelt ist, geht die experimentelle Untersuchung psychischer Elementarphänomene aus der naturwissenschaftlichen Experimentalforschung, insbesondere der Physiologie hervor, von der sie ihre grundlegenden Anregungen und Orientierungen erhielt. Demnach sind es also ganz differente Bezüge, aus denen die sogenannte duale Begründung der Psychologie in experimentelle Individualpsychologie und kultur- und entwicklungsgeschichtliche Völkerpsychologie erwächst. Sie ist sicher nicht Wilhelm Wundt anzulasten. Vielmehr knüpfte er an das Vorgefundene an, gab ihm sein eigenes Gepräge und suchte, Individual- und Völkerpsychologie in ein einheitliches psychologisches Wissenssystem zu integrieren, wobei er in der Psychologie der Gemeinschaft die höhere und eigentlich abschließende Aufgabe der Psychologie sah. In seinen Lebenserinnerungen "Erlebtes und Erkanntes" vermerkte er daher: "Als ich den Versuch machte, mich von der Theorie der Sinneswahrnehmung ausgehend mit den zusammengesetzteren Problemen der Psychologie zu beschäftigen, konnte ich mich dem Eindruck nicht entziehen, daß zwischen beiden Gebieten eine Kluft bestehe, die um so dringender der Ausfüllung bedürfe, weil die mit Hilfe der Physiologie zur experimentellen Behandlung fortgeschrittenen Gebiete vielfach auf Beziehungen des logischen Denkens zu den verwickelteren Bewußtseinsvorgängen hinwiesen. Besonders seitdem ich selbst in der ersten Auflage der physiologischen Psychologie mir bereits die Aufgabe gestellt hatte, den im Grunde die wirkliche Lösung hinter einem bloßen Wort verbergenden Begriff der "unbewußten Schlüsse" zu eliminieren und durch tatsächliche, also bewußt nachweisbare psychische Vorgänge zu ersetzen, wurde mir der Gegensatz, in den hier die verschiedenen Gebiete der Psychologie zueinander geraten waren, immer unerträglicher. ...Hier stand mir daher die Ausgleichung zwischen der sogenannten höheren und der niederen Psychologie als eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft vor Augen, ..." (5) Für Wilhelm Wundts wissenschaftlichen Werdegang und Lebensweg war überhaupt die systematische, kritische und schöpferische Verarbeitung allen für die Psychologie positiven Wissens seiner Zeit und der Geschichte charakteristisch. Erwarb er sich schon mit einem umfassenden naturwissenschaftlichen Wissen und durch eigene experimentelle Arbeit auf physiologischem und psychologischem Gebiet, die ihren Niederschlag in solchen grundlegenden Werken wie dem '' Lehrbuch der Physiologie des Menschen" (1864/65), "dem Handbuch der medizinischen Physik" (1867) und seinen "Untersuchungen zur Mechanik der Nerven und Nervenzentren" (1871/1876) fanden, als Physiologe einen großen Namen, so wurde er durch die "Grundzüge der Physiologischen Psychologie" (1874) als Psychologe weltberühmt. Mit diesem Standardwerk der Experimentalpsychologie konnte Wundt seine Absicht, die Experimentalpsychologie als eigenständige Wissenschaftsdisziplin abzugrenzen nur deshalb verwirklichen, weil es ihm in einer geradezu exzellenten Weise gelang, alles für sein Vorhaben Wesentliche und Grundlegende aus den Wissenschaften und ihrer Geschichte, vor allem aus der Biologie, der Medizin, der Psychologie und der Philosophie, nach eigenem Konzept und Programm schöpferisch zu verarbeiten. Es versteht sich, daß gerade auch aus dieser Sicht dem Studium der Quellen Wundtschen Schaffens besondere Aufmerksamkeit zuteil werden muß.

Obgleich Wilhelm Wundt nach vollendetem Medizinstudium die Physiologie als Lebensberuf vorschwebte, gewann er schon frühzeitig durch die klinische Praxis und durch die experimental-psychologischen Forschungen Ernst Heinrich Webers Zugang und Interesse an der Psychologie, die ihn fortan lebhaft beschäftigte. Auch seiner philosophischen Qualifizierung maß er große Bedeutung bei und bekannte, daß er Immanuel Kant und Johann Friedrich Herbart am meisten in der "Ausbildung eigener philosophischer Ansichten" verdanke (6). Es verdient besonders hervorgehoben zu werden, daß Wundt seine Leser der "Grundzüge der Physiologischen Psychologie" darauf hinwies, wie sehr dieses "Werk von den allgemeinen Anschauungen durchdrungen ist, welche durch Darwin ein unverlierbarer Besitz der Naturforschung geworden sind". (7) Wahrlich, meine Damen und Herren, Wilhelm Wundt war auf der Höhe seiner Zeit, und es ist gewiß kein wissenschaftsgeschichtlicher Zufall, daß gerade ihm die Rolle eines Begründers der modernen Psychologie zuteil wurde. Der Entwicklungsgedanke ist von Wundt für die Psychologie formuliert und durch die Lehre Darwins bekräftigt, überhaupt einer der grundlegenden Gedanken der Wundtschen Wissenschaft, den man sogar gelegentlich als "Evolutionismus" kennzeichnete.
Tatsächlich kann Wundts Psychologie als eine Evolutionspsychologie gedeutet werden, die in der Frage der geistigen Entwicklung das Hauptproblem der Psychologie sieht: "Ist hier nicht wiederum alles Entwicklung", formulierte Wundt, "von der Bildung der einfachsten Sinneswahrnehmungen an bis zu der Entstehung der verwickeltsten Gefühls- und Gedankenprozesse. Hat auch die Psychologie, soweit sie es vermag, diese Erscheinungen auf Gesetze zurückzuführen, so darf sie doch nimmermehr solche Gesetze von den Tatsachen der geistigen Entwicklung selber loslösen. Einer Psychologie, die dies zustande brächte, wäre schließlich ihr eigentlicher Gegenstand abhanden gekommen. " (8) Wenn auch das von Wundt für die Psychologie formulierte Entwicklungskonzept mit einer Kontinuitätsauffassung der psychischen Entwicklung behaftet ist, die lediglich graduelle Unterschiede des Bewußtseins von Tieren und Menschen postuliert, und wenn dieses Konzept schließlich in jene idealistische Wendung mündet, die in der im individuellen Leben hervortretenden geistigen Entwicklung die  Quelle  aller geschichtlichen Entwicklung sieht, so gehört der rationelle, materialistische Kern dieser psychologischen Entwicklungsauffassung zum progressiven Erbe unserer Wissenschaft. Im Grunde genommen führt Wilhelm Wundt mit seinem Entwicklungsprinzip die Psychologie geschichtlich an eine Psychologie heran, die von einem dialektisch-materialistischen Entwicklungsprinzip ausgeht. Mehr noch! Die Konsequenz und Weitsicht, mit der Wundt seine -vor allem an den Quellen der klassischen bürgerlichen Philosophie und der biologischen Evolutionstheorie gebildete - Entwicklungsauffassung zu einem fundamentalen Prinzip seiner Psychologie entwickelt, nach dem letztendlich jede psychische Kausalität in eine Entwicklungskausalität aufgeht bzw. eingeordnet ist, dürfte in ihrer Vorbildwirkung auch für künftige Psychologengenerationen unbestreitbar sein und schließlich: Wilhelm Wundt hatte stets in gereifter Weitsicht das Ganze der Psychologie in seinen entwicklungsgeschichtlichen und gesellschaftlich-historischen Zusammenhängen im Auge, wenn er ausdrücklich und warnend darauf hinweist, bei jeder Untersuchung psychischer Phänomene nie die  gesellschaftliche Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und ihrer pychischen bzw. geistigen Tätigkeit aus dem Auge zu verlieren. -Hatten wir bereits auf die allmähliche Herausbildung exprimentalpsychologischer Forschung in naturwissenschaftlichen Laboratorien hingewiesen, so dürfte nunmehr bedeutsam sein festzuhalten, daß diese Forschung nicht von der Absicht getragen war, die Experimentalpsychologie als wissenschaftliche Disziplin zu entwickeln bzw. die Psychologie experimentalmethodisch zu fundieren. In ihrer ursprünglichen Bedeutung verstand sich die Psychophysik auch nicht als eine Grundlage oder als Teilgebiet der Psychologie. Daraus erklärt sich auch die Reaktion Gustav Theodor Fechners auf die ihm auseinandergesetzten Pläne Wilhelm Wundts, in Leipzig ein psychologisches Institut zu gründen: "Dann werden Sie ja", so sagte Fechner, "in einigen Jahren mit der ganzen Psychologie fertig sein." (9) Wir möchten hier die Auffassung vertreten, daß gerade die Berücksichtigung dieses Umstandes die psychologiegeschichtliche Bedeutung des Wundtschen Einsatzes in  der experimentalpsychologischen Forschung und Lehre sowie seiner Pläne zur Entwicklung der Psychologie in besonderer Weise deutlich werden läßt. Ihm ging es von Anfang an um die Psychologie als Wissenschaft, und das erklärtermaßen vom Standpunkt des Physiologen, aber nicht um sinnesphysiologische oder gar metaphysische Grenzgebietsforschung. Es dürfte auch nicht überflüssig, ja der Vollständigkeit des Wundt-Bildes sogar angemessen sein, auf die Lage aufmerksam zu machen, in der sich Wundt demzufolge befand. Sie geht recht eindrucksvoll aus Briefen an Sophie Mau aus dem Jahre 1872 hervor, deren Abschriften sich im hiesigen Wundtarchiv befinden. Am 27. Mai 1872 schrieb Wundt unter anderem: "Ich habe als Mediziner meine wissenschaftliche Laufbahn begonnen. Aber meine frühesten Neigungen zogen mich zu den theoretischen Naturwissenschaften. So wählte ich die Physiologie. Hier würde es mir denn wohl nach einigen Jahren geglückt sein, den Hafen eines gesicherten akademischen Berufs zu erreichen. Aber ...ich habe wenig praktischen Sinn, bin wenig dazu angetan auch wissenschaftlich immer das zu betreiben, was für die Gewinnung einer äußeren Stellung gerade nützlich ist, sondern ich bin in der Wissenschaft wie im Leben, mehr als es die gewöhnliche Lebensklugheit billigt, geneigt meinem freien Interesse zu folgen. Meine physiologischen Arbeiten führten mich unversehens auf philosophische Studien. Ohnehin nicht besonders befähigt, die Gunst einflußreicher Persönlichkeiten zu gewinnen, wurde ich nun, wie ich es mir hätte voraussagen können, überall wo es sich um die Besetzung einer akademischen Lehrstelle handelt als ein vom Fach Abtrünniger bezeichnet." Und vom 15. Juni 1872 können wir die Zeilen lesen: "Meine eigentlichen wissenschaftlichen Arbeiten, diejenigen nämlich, bei denen es sich um die Wissenschaft und nicht um den Broterwerb handelt, bewegen sich aber meistens auf einem dem ehrsamen Fachgelehrten verdächtigen Grenzgebiet zwischen Physiologie und Philosophie, auf dem sich zuerst nicht viel äußere Ehre gewinnen läßt. Glaube deshalb ja nicht, ich wolle mir den Schein geben, nicht ehrgeizig zu sein. Im Gegenteil ich bin sehr ehrgeizig und ich habe große Pläne in der Tasche." (10) Diese Pläne fanden in Leipzig ihre Verwirklichung. Kehren wir zur Frage zurück, welche psychologiehistorische Bedeutung Wundts Arbeiten unter den derzeitigen wissenachaftsgeschichtlichen Bedingungen hatten. Seit der denkwürdigen Kritik Immanuel Kants an der Psychologie als Wissenschaft, die vom Modell einer mathematischen Naturwissenschaft geprägt war und eine negative Prognose für die Psychologie insbesondere hinsichtlich der Möglichkeit, eine Experimentalwissenschaft zu werden, enthielt, befand sich die akademische Psychologie in keiner beneidenswerten Lage. Herbarts Versuch, die Psychologie mathematisch zu begründen, verlief sich in einer durchweg spekulativen Vorstellungsmechanik, wenngleich ihr auch das Verdienst zukommt, die Vermögenspsychologie kritisch überwunden und die Einheit des Psychischen anerkannt und damit eine "Einheit der psychologischen Wissenschaft", wie Wundt sich ausdrückte, angebahnt zu haben. So verwundert Georg Wilhelm Friedrich Hegels Kritik am damaligen Zustand der Psychologie, die er in seiner "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse" aus dem Jahre 1850 formulierte, in keiner Weise: "Die Psychologie gehört," so führte er aus, "wie die Logik, zu denjenigen Wissenschaften, die in neueren Zeiten von der allgemeineren Bildung des Geistes und dem tieferen Begriffe der Vernunft noch am wenigsten Nutzen gezogen haben, und befindet sich noch immer in einem höchst schlechten Zustande. Es ist ihr zwar durch die Wendung der Kantischen Philosophie eine größere Wichtigkeit beigelegt worden, sogar daß sie, und zwar in ihrem empirischen Zustande, die Grundlage der Metaphysik ausmachen solle,... Mit dieser Stellung der Psychologie, ...hat sich für ihren Zustand selbst nichts verändert, ..." (11)

Auch die folgenden Versuche, die Psychologie empirisch bzw. als Naturwissenschaft aufzubauen, blieben im wesentlichen spekulativ. Hier wäre der Versuch von Friedrich Eduard Beneke zu nennen, die Psychologie als eine "Naturwissenschaft" der Seele zu bestimmen und sie - in Fortsetzung des Fries'schen Psychologismus - zur Grundlage aller anderen Wissenschaften zu erklären. Auch die medizinische Psychologie von Rudolf Hermann Lotze, die sich um eine Verknüpfung psychologischen und medizinisch-physiologischen Wissens bemühte, blieb eine Übergangserscheinung zur neueren Psychologie. (12) Trotz fruchtbarer Ansatzpunkte war sie weithin metaphysisch konzipiert. Wundt selbst knüpfte in seinen Beiträgen zur Theorie der Sinneswahrnehmung an Lotzes Theorie der Lokalzeichen an.

Bereiteten diese und andere Versuche die kommende Wende in der Entwicklung der psychologischen Wissenschaft vor, so reifte doch mehr und mehr die Notwendigkeit heran, alle spekulativ betriebenen Versuche einer empirischen Psychologie bzw. die metaphysische Psychologie selbst kritisch zu überwinden und der Psychologie ein wissenschaftliches Fundament zu geben. Und gerade an diesem historisch bedeutsamen Abschnitt in der Herausbildung unserer Wissenschaft begegnen wir Wilhelm Wundt mit seinen psychologischen Frühschriften, die in der psychologischen Historiographie bisher noch nicht die ihnen gebührende Würdigung erfahren haben. In seiner Arbeit "Über die Methoden in der Psychologie", die er der Sammlung seiner "Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung" im Jahre 1862 voranstellte, entwickelt Wilhelm Wundt eine neue psychologische Methodologie, die in ihrer psychologiegeschichtlichen Bedeutung in ihrer Zeit geradezu beispiellos ist. Sie beginnt mit den programmatischen Aussagen: "Es ist eine Lehre, die auf jeder Seite die Geschichte der Naturwissenschaften uns einprägt, daß die Fortschritte jeder Wissenschaft an den Fortschritt der Untersuchungsmethoden gebunden sind. Die ganze neuere Naturwissenschaft hat aus einer Umwälzung der Methodik ihren Ursprung genommen, und wo in derselben große neue Erfolge errungen wurden, da kann man sicher sein, daß die Verbesserung bisheriger oder die Auffindung neuer Methoden den Erfolgen vorausging. Wenn man die Psychologie als eine Naturwissenschaft betrachtet, so muß es im höchsten Grade auffallen, daß jene großen Umwälzungen, welche die physikalischen Wissenschaften seit der Zeit Baco' s und Galilei 's vollständig neu gestaltet haben, auf sie ganz ohne Wirkung geblieben sind. Denn von der Psychologie kann man mit größerem Rechte sagen, was Kant einst von der Logik bemerkt hat: sie sei seit Aristoteles nicht um einen Schritt weiter gekommen. Die Logik ist wenigstens stehen geblieben, aber die Psychologie ist vielfältig rückwärts gegangen.

Wenn man jedoch die Probleme ins Auge faßt, die von den Psychologen mit besonderer Vorliebe behandelt werden, so kann man über den langsamen Fortschritt dieser Wissenschaft nicht in Verwunderung kommen. Die Fragen nach der Beschaffenheit, dem Sitze, dem Ursprung und den künftigen Schicksalen der Seele sind von jeher vor allem zum Gegenstand psychologischer Untersuchung genommen worden." Und Wundt fährt fort: "Es wäre mit der Physik schlecht bestellt, wenn die Physiker, statt in die bunte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen mitten hineinzugreifen, etwa hätten anfangen wollen zu spekulieren über das Wesen der Materie, und wenn sie alle Probleme zur Seite geschoben hätten bis zur gründlichen Erledigung dieser spekulativen Frage. Warum folgt die Psychologie nicht dem Beispiel der Naturwissenschaften? Warum will sie hartnäckig da beginnen, wo sie höchstens wird endigen können? Die große Menge der Seelenerscheinungen ist in sich so geschlossen, daß sie recht gut einer unabhängigen wissenschaftlichen Untersuchung fähig ist. Und entschließt man sich einmal, diese Untersuchung aufzunehmen, unbeirrt von vorgefaßten Ansichten, so wird man unerwartet schließlich auch auf die metaphysischen Grundfragen der Psychologie wieder zurückkommen, und man wird ihnen dann näher stehen, als das jetzt möglich ist" (13)

Den Grundfehler jeder metaphysischen Methode in der Psychologie sah Wundt in der Tatsache, daß ihr mit dieser ein fremdes und zudem ungenügend entwickeltes, nicht aus ihrer eigenen Praxis hervorgegangenes Forschungsprinzip aufgezwungen worden war, das ihrem Gegenstand nicht angemessen ist. Deshalb forderte er, von den empirisch vorgefundenen Tatsachen des Seelenlebens auszugehen und es in seinen Anfängen, seinen Entwicklungen und damit auch geschichtlich und vergleichend zu studieren. In diesem Sinne bildete für Wundt die "praktische Psychologie" des gesellschaftlichen Lebens, die nicht allein beim Individuellen verbleibt, das Fundament und damit den Ausgangspunkt der psychologischen Theorie. So reizvoll es erscheinen mag, meine Damen und Herren, bereits an dieser Stelle über die psychologiegeschichtliche Bedeutung dieses Ansatzes Wundtscher psychologischer Methodologie zu reflektieren, würden wir diesem nicht gerecht, wenn nicht zugleich die methodischen Konsequenzen Berücksichtigung finden, die sich aus diesem ergeben. Lassen wir Wundt selbst sprechen: "Wenn es sich als Ergebnis unserer Kritik herausgestellt hat, daß die bisherigen Methoden der Psychologie unzureichend waren, so erhebt sich jetzt die Frage, auf welche Weise denn diese Methoden zu verbessern seien. Ich glaube, daß diese Frage im allgemeinen nicht schwer zu beantworten ist. Man wird hierbei, da, wie wir nachgewiesen haben, die eingeschlagene deduktive Methode prinzipiell zu verwerfen ist, nur an das induktive Verfahren anknüpfen können, das die empirische Psychologie schon seit lange befolgt hat. Aber es wird nachzuforschen sein, ob die Induktion nicht in viel weiterem Umfange als bisher geschehen ist in den psychologischen Untersuchungen zur Anwendung kommen kann. Es gibt nach meiner Ansicht zwei Wege, auf denen dies möglich ist: der erste besteht in einer Erweiterung der bisherigen Beobachtungsmethode, der zweite in der Herbeiziehung des Experiments als Untersuchungshilfsmittel." (14)

Wenn Wundt die Statistik von Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens des Menschen, die es nach den ihnen zugrundeliegenden psychischen Gesetzmäßigkeiten zu erforschen gilt, an erster Stelle nennt, so nicht nur deshalb, weil sich nach ihm aus statistischen Ermittlungen "mehr Psychologie lernen läßt als aus allen Philosophen, den Aristoteles ausgenommen." (15) Vielmehr hat Wundt, wie wir soeben nachzuweisen versuchten, eine Psychologie im Auge, die sich am Leben mißt und nicht umgekehrt. Als zweites Hilfsmittel psychologischer Forschung nennt er die breite Anwendung des Experiments: "Sobald man einmal die Seele als ein Naturphänomen und die Seelenlehre als eine Naturwissenschaft auffaßt," so argumentiert Wundt, "muß auch die experimentelle Methode auf diese Wissenschaft ihre volle Anwendung finden." (16) Und wenn er auch zugesteht, daß zu jener Zeit "die sinnliche Seite des Seelenlebens der experimentellen Untersuchung die weiteste Aussicht gewährt", hielt er die experimentelle Erforschung höherer psychischer Vorgänge für möglich. Aussagen, die dies bestritten, bezeichnete er als Vorurteil. Entscheidend ist ihm, daß mit Hilfe des Experiments Gesetze des Psychischen ermittelt werden können, indem durch mannigfaltige Variation äußerer Einwirkungen auch die veränderten psychischen Reaktionen auf diese erfaßbar sind. Das gilt natürlich für die Untersuchung unbewußter psychischer Vorgänge ebenso. Man wird also Wilhelm Wundt nicht gerecht, wenn man allein in der Einführung, Erprobung und Weiterentwicklung der experimentellen Methode das "wahrhaft Bleibende" seines psychologischen Lebenswerkes sieht. Ihm ging es um mehr! Wilhelm Wundt brach mit der überlieferten Psychologie, indem er sie schöpferisch überwand und eine neue Psychologie schuf. Dazu war es notwendig, das Problem des Empirischen für die Psychologie zu lösen, an dem die spekulative Psychologie praktisch scheiterte. Natürlich wurde damit zugleich die Frage nach dem Verhältnis von Empirischem und Theoretischem in unserer Wissenschaft vor allem am Vorbild der Naturwissenschaften neu aufgeworfen. So schuf Wilhelm Wundt eine wissenschaftliche psychologische Methodologie, die das historische Herangehen an den Gegenstand und seine statistische und experimentelle Erforschung als das ihr Wesenseigene begriff. Sie war ein kühner Entwurf, der die Entwicklung der Psychologie im heutigen Sinne fundieren konnte. Wundts methodologisches Konzept verwirklichte sich in der Forschungsarbeit seines Instituts für experimentelle Psychologie auf der Grundlage der "Grundzüge der Physiologischen Psychologie", die von Auflage zu Auflage zu einer gewaltigen Fülle psychologischen Wissens anwuchsen und zu einem der bedeutendsten Werke der Psychologiegeschichte überhaupt wurden.

Mit dem Anspruch, die Psychologie als Naturwissenschaft zu begründen, der sich geschichtlich als maßgebend für die Herausbildung der experimentellen Psychologie erwiesen hat, entwickelte Wundt ein allgemeinstes theoretisch-methodologisches Konzept, das seinen paradigmatischen Charakter wahrhaftig nicht verleugnen konnte. Maßgebende Vertreter der damaligen akademischen Psychologie wie etwa Moritz Wilhelm Drobisch reagierten umgehend auf den neuesten Versuch, wie er es nannte, die Psychologie naturwissenschaftlich zu begründen, mit einer durchweg kritischen Analyse. (17) Nach Michail Grigorjewitsch Jaroschewski waren Wundts "Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele" Mitte der sechziger Jahre durch die zaristische Zensur eine Zeitlang verboten. (18) Wundts Konzept besaß also nicht nur fachwissenschaftliche, sondern zugleich weltanschauliche und politische Relevanz. Was machte Wundts Entwurf einer neuen Psychologie nun so gewichtig? Wilhelm Wundt geht zunächst davon aus, daß die Psychologie eine Wissenschaft von der Natur der Seele sei, Psychisches also Naturphänomen. Dieses Naturphänomen bestimmt er - ganz in der Tradition von John Locke und Immanuel Kant stehend - als "innere Erfahrung", übernimmt damit zugleich die mit der Unterscheidung von äußerer und innerer Erfahrung vollzogene Inkonsequenz des Materialismus des großen englischen Philosophen, die dem Erfahrungsbegriff seine Unbestimmtheit und Widerspüchlichkeit verleiht.

Zur näheren Bestimmung seiner Auffassung von der Psychologie als der Wissenschaft von der inneren Erfahrung fügt nun Wundt hinzu, daß er sie vom physiologischen Standpunkt aus durchführe, insbesondere seine Experimentalpsychologie des Individuums. In Wundts Verständnis bedeutet das, von der Erkenntnis auszugehen, daß das Gehirn und seine Funktionstätigkeit die organische Grundlage des Psychischen ist: "Mit zureichender Sicherheit läßt sich wohl der Satz als begründet ansehen, daß sich nichts in unserm Bewußtsein ereignet", führt Wundt in den Schlußbetrachtungen seiner 1. Auflage der Grundzüge der Physiologischen Psychologie aus dem Jahre 1874 aus, "was nicht in bestimmten physiologischen Vorgängen seine körperliche Grundlage fände. Die einfache Empfindung, die Synthese der Empfindung zu Vorstellungen, die Assoziation und Wiedererweckung der Vorstellungen, endlich die Vorgänge der Apperzeption und der Willenserregung sind begleitet von physiologischen Nervenprozessen. Andere körperliche Vorgänge, wie insbesondere die einfachen und komplizierten Reflexe, gehen an und für sich nicht ein in das Bewußtsein, bilden aber wesentliche Vorbedingungen der bewußten oder im engeren Sinne psychologischen Tatsachen". Und weiter führt er aus: "Dieses Prinzip der durchgängigen Wechselwirkung zwischen Seele und Leib, das, so oft man es auch zu beschränken suchte, mit unwiderstehlicher Gewalt über das ganze Gebiet der Innern Erfahrung sich ausdehnte, ist seit alter Zeit in verschiedener Weise metaphysisch gedeutet worden." (19)

Das Wundtsche Prinzip eines untrennbaren Zusammenhangs von organischer Grundlage und psychischen Prozessen bildet eines der grundlegenden Prinzipien seiner physiologischen Psychologie, dem sogar sein inhaltlicher Aufbau folgt. Für diese Psychologie ist die Frage, "wie der physische Empfindungseindruck zur Empfindung wird", die "Grundfrage der Psychologie".

(20) In seiner fünften Vorlesung führt Wundt aus, daß die durch den Außenreiz hervorgerufenen Veränderungen insbesondere in den elektrischen Vorgängen der Nerven in einer ursächlichen Beziehung zur Empfindung stehen. In diesem Sinne sieht Wundt in der Aufnahme äußerer Eindrücke und ihrer Umsetzung in Bewegung die beiden Grundfunktionen des Nervensystems, auf die die beiden Grundfunktionen des Psychischen, "die Sinnesvorstellung und die spontane Bewegung", wie er ausführt, zurückgeführt werden können. Danach definiert Wundt das Psychische als "Zwischenglied", das zwischen den physischen Eindruck und der Bewegung nach den ihm eigenen Gesetzmäßigkeiten vermittelt.

(21) So stellt sich uns also der physiologische Standpunkt der Wundtschen Psychologie als ein naturwissenschaftlich-materialistischer Standpunkt dar, von dem er seine weltanschauliche Brisanz erhält. Gerade das vermerkte und tadelte Drobisch. In seiner psychologiehistorischen Bedeutung und Tragweite ist das paradigmatische Konzept der Wundtschen Psychologie jedoch erst dann vollständig erfaßbar, wenn Wundts Idee einer gesellschaftlichen Determination der individuellen psychischen Entwicklung und der Handlungen des Menschen gebührend Berücksichtigung findet. Sie beinhaltet, daß der gesellschaftliche Gesamtwille und die sozialen Verhältnisse der Gesellschaft den Individualwillen und damit die Handlungen determinieren, indem sie als äußere Bestimmungsgründe des Handelns durch den "persönlichen Faktor", wie Wundt ihn nennt, d. h. dem Charakter als dem "innersten Wesen der Persönlichkeit", vermittelt werden. "Wir haben hervorgehoben," formulierte Wundt in seinen Vorlesungen, "daß der Gesamtwille ein Bestimmungsgrund des Einzelwillens sei, aber erst das Hinzutreten des persönlichen Faktors entscheidet, ob die Wirkung, die der Gesamtwille anstrebt, in der Tat in dem Willen des Individuums zur Geltung kommt. Ebenso ist der soziale Zustand sowohl der ganzen Bevölkerung als des speziellen Bevölkerungskreises, in welchem das Individuum steht, fortwährend von bestimmendem Einfluß, aber auch hier geschieht der einzelne Willensakt niemals ohne den Hinzutritt des persönlichen Faktors." (22) Dabei erfolgt die Determination der Handlung im Wundtschen Sinne dadurch, daß sich die äußeren Bestimmungsgründe des Handelns in innere Bestimmungsgründe umwandeln und damit zu Motiven werden. So wächst also die Persönlichkeit "aus einem jenseits ihrer Existenz liegenden Kausalzusammenhang hervor." (23) Je entwickelter sie ist, desto wirksamer wird ihr Einfluß auf das gesellschaftliche Leben. Allerdings darf an Wundts Auffassung über die gesellschaftliche Determination menschlichen Handelns nicht übersehen werden, daß sich für ihn die Begriffe des historischen Geschehens und des willkürlichen Handelns vollständig decken. Nach Wundt führt alle geschichtliche Bewegung auf psychologische Bestimmungsgründe zurück, ihm sind objektive gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten unbekannt. So verwirklicht sich eine gesellschaftliche Determination, indem der Einzelwille vieler Individuen von einem gesellschaftlichen Gesamtwillen bestimmt wird, der immer nur aus den Willensäußerungen einer großen Individualzahl besteht. Dagegen wird der Gesamtwille "durch den Willen der energischen Individuen" beherrscht. (24) Damit wird eine große psychologische Idee im Umriß sichtbar, die vom physiologischen Standpunkt aus geboren wurde. Sie erwies sich als ein naturwissenschaftlich-materialistisches Konzept von Psychologie, das auf dem gesamten positiven Wissen seiner Zeit aufbaute, das für die psychologische Erkenntnis bedeutsam war. Der entscheidende und für den psychologiehistorischen Fortschritt grundlegende Gedanke besteht in der Erkenntnis einer auf organismischen Grundlagen aufbauenden und durch Eigengesetzlichkeit verwirklichten Mittlerrolle des Psychischen im Determinationszusammenhang äußerer Einwirkungen und Handlungen, die beim Menschen gesellschaftlich bestimmt sind. Dieser Grundgedanke machte eine neue Psychologie möglich, die Wundt fortschreitend entwickelte. Ihm entsprach ein zukunftsweisender Entwurf einer psychologischen Methodologie, die in der "praktischen Psychologie" des gesellschaftlichen Lebens des Menschen ihren Ausgangspunkt und in der exakt kontrollierten Wechselwirkung zwischen Äußerem und Innerem zum Studium der Entwicklungsgesetze des Psychischen ihre Grundlage sieht. Dieser Methodologie waren die historische, die mathematisch-statistische und die experimentelle Methode wesenseigen. Auf ihres Basis war es möglich, die Experimentalpsychologie zu konzipieren, zu konstituieren und zu institutionalisieren. Fand das Wundtsche psychologische Denken auch in der Verkennung des Abbildungscharakters des Psychologischen und der im bürgerlichen Denken wurzelnden idealistischen Auffassung vom gesellschaftlichen Leben des Menschen seine Begrenzung, so hat sich der naturwissenschaftliche Standpunkt in der schöpferischen Überwindung der spekulativen Psychologie und in der Herausbildung der Experimentalpsychologie als psychologiegeschichtlich progressiv erwiesen. Gerade in diesem verwurzelte Wundts unerschütterliche Gewißheit von der Möglichkeit und der Notwendigkeit einer experimentell forschenden Psychologie, die er zeitlebens verteidigte und kraft seiner gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Autorität vor allen Anschlägen bewahrte. Im Grunde genommen entwarf und entwickelte Wundt eine Psychologie, die sich den Anforderungen ihrer Zeit auch in ihren Wandlungen stellte und deren innerstes Wesen in dem Anspruch bestand, sich als Wissenschaft zu konstituieren. Wilhelm Wundt maß diesen Anspruch selbst an strenger Wissenschaftlichkeit, für die er wohl der beste Kronzeuge war. Noch in hohem Alter warnte er vor überstürzten Entwicklungen, ja er forderte von den Vertretern der jungen Wissenschaft, daß sie auch philosophisch in der Lage sein sollten, ihr Fachgebiet gediegen zu vertreten.
Wilhelm Wundt forderte und entwickelte eine Psychologie, die vom Leben, von der Gesellschaftlichkeit des Menschen im geschichtlichen Werdegang und seinen Entwicklungen ausging. Deshalb mußte sie auch die ganze Fülle der sie kennzeichnenden Fragestellungen enthalten, die sie zu ihrem Gegenstandsbereich rechnete.
Dieser Gegenstandsbereich war weit, so daß die Psychologie als System entstand, das ein weites Forschungsfeld absteckte, vom Kognitiven und Motivationalen bis zum Ausdruck, der Sprache usw. und weit darüber hinaus das geschichtliche Werden des Psychischen ebenso umfaßte wie seine Ontogenese und mit ihren materiellen Grundlagen und Bedingungen in Natur und Gesellschaft. Daß das Gegenstandsfeld der Psychologie aber auch zu weit abgesteckt war, ist schon eine andere Frage. Und daß das Elementenhafte (durchaus nicht im Sinne des Atomistischen verstanden), das Prozessuale, das Strukturelle, ja das Individuelle in der Wundtschen Psychologie eine besondere Beachtung fand, läßt sie erst recht eine solche sein.

Als weit in die Zukunft reichend erwies sich das theoretischmethodologische Konzept dieser Psychologie, welches uns auch den Schlüssel für das Verständnis und für die Erklärung seiner Weiterentwicklung, seiner Veränderungen und Wandlungen liefert. Das ist wörtlich zu verstehen. Daß die Psychologie keine Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrungen sein kann, die, sozusagen unter dem Druck einer subjektiv-idealistischen Erkenntniskonzeption und einer voluntaristischen Metaphysik stehend, die die "Gegenüberstellung äußerer materieller Objekte und innerer Vorgänge", von Geist und Natur als hinfällig erklärt, ist uns geläufig. Ebenso geläufig ist uns, daß die Psychologie nicht Grundlagenwissenschaft der Gesellschaftswissenschaften sein kann. Das markiert das Vergängliche, das bereits Überwundene im Werk Wilhelm Wundts..

Aber daß die Psychologie eine Wissenschaft ist, die von den objektiv-realen Grundlagen ihres Gegenstandes, der geschichtlichen Entwicklung, des gesellschaftlichen Lebens, der Ergebnisse der biologisch-medizinischen Wissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der Neurowissenschaften, der Sprachwissenschaften, der Logik und Wissenschaftsmethodologie usw. ausgeht und nach Gesetzmäßigkeiten forscht, die dem Psychischen wesenseigen sind, das ist das Bleibende und Weiterwirkende, schon bei Wundt und bis in die Gegenwart. Und ihr besonderes Gepräge erhielt diese Psychologie durch den historischen Sinn und den enzyklopädischen Weitblick ihres Schöpfers, der die gesellschaftlichen Entwicklungen und Beziehungen in seiner Sichtweise nie aus dem Auge verlor und dem die psychologischen, die politischen und die philosophischen Interessen die zentralen Motive seines Lebens waren. Mag die konkrete theoretische Ausgestaltung des Faches unter zeit- und entwicklungsbedingten Wirkungen vergänglich sein, sozusagen eine Etappe der Entwicklung unserer Wissenschaft markieren, aber ihr progressiver paradigmatischer Inhalt wirkt weiter und bleibt geschichtlich bedeutsam bis in die Gegenwart. Wilhelm Wundt wird stets ein Ehrenplatz in der Entwicklungsgeschichte der psychologischen Wissenschaft sicher sein.

Anmerkungen:

(1)   WUNDT, WILHELM: Das Institut für experimentelle Psychologie zu Leipzig. Abdruck eines Aufsatzes in der Festschrift der Universität Leipzig zur 500jährigen Jubelfeier. Psychol. Studien V, 1910, S. 279 f.
(2)  WEBER, ERNST HEINRICH: Tastsinn und Gemeingefühl, Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Nr. 149, 1905, S. 3ff.
(3)   WUNDT, WILHELM: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1920, S. 301 .
(4)   WUNDT, WILHELM: ebd. S. 224 f.
(5)   WUNDT, WILHELM: ebd. S. 200 ff.
(6)   WUNDT, WILHELM: Grundzüge der Physiologischen Psychologie, Leipzig, 1874, S. VI.
(7)   WUNDT, WILHELM: ebd. S. VI.
(8)   WUNDT, WILHELM: Über Ziele und Wege der Völkerpsychologie, Philos. Studien IV, 1888, S. 14.
(9)   WUNDT, WILHELM: Erlebtes und Erkanntes, Stuttgart 1920,
S. 504.
(10)  WUNDT, WILHELM: Brief an Sophie Mau vom 15. 6. 1872.
Briefabschrift im Wundt-Nachlaß, Universitätsarchiv der Universität Leipzig.
(11)  HEGEL, G.W.F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Berlin 1966, S. 358.
(12)  STERN, WILLIAM: Die psychologische Arbeit des 19. Jahrhunderts, insbesondere in Deutschland. Z. f. päd. Psychol. u. Pathol., 2. Jg. H. 5, 1900.
(13)  WUNDT, WILHELM: Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung, Leipzig u. Heidelberg 1862, S. XI ff.
(14)   WUNDT, WILHELM: ebd. S. XXIV.
(15)   WUNDT, WILHELM: ebd. S. XXV.
(16)   WUNDT, WILHELM: ebd. S. XXVII.
(17)  DROBISCH, MORITZ. WILHELM: Über den neuesten Versuch, die Psychologie naturwissenschaftlich zu begründen. Z. f. exakte Philosophie IV, 1863, S. 513-548.
(18)  JAROSCHEWSKI, MICHAIL G.: Die Logik der Wissenschaftsentwicklung und die wissenschaftliche Schule. Wissenschaftliche Schulen. Bd. 1, Berlin 1977.
(19)  WUNDT, WILHELM: Grundzüge der Physiologischen Psychologie. 1. Aufl. Leipzig 1874, S. 858 f.
(20)  WUNDT, WILHELM: Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung. Leipzig u. Heidelberg 1862, S. XV.
(21)  WUNDT, WILHELM: Grundzüge der Physiologischen  Psychologie, Leipzig 1874, S. 5 ff.
(22)  WUNDT, WILHELM: Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. 1. Aufl. Leipzig 1865, Bd. 2, S. 415 f.
(23)  WUNDT, WILHELM: ebd. S. 418.
(24)  WUNDT, WILHELM: ebd. S. 407.