Wundts Einfluß
Text: Maximilian Wontorra
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Aus aller Welt in alle Welt |
Ist Wundts Leistung als Begründer einer institutionalisierten empirischen Psychologie per se kaum zu überschätzen, so darf der Multiplikatoreffekt für die Idee einer von der Philosophie losgelösten, naturwissenschaftlich orientierten Psychologie, der seinem Leipziger Institut am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zukam, nicht vergessen werden. Wundt betreute in seiner Leipziger Zeit in den Jahren von 1875 bis 1919 nicht weniger als einhundertsechsundachtzig Dissertationen, die erste experimental-psychologisch konzipierte Arbeit des 1856 geborenen und dann früh verstorbenen Max Friedrich mit dem Thema Über die Apperzeptionsdauer bei einfachen und zusammengesetzten Vorstellungen bereits 1881. Allein achtzehn seiner Doktoranden kamen aus den USA, acht aus Österreich, sieben aus Rumänien, sechs aus Rußland, sechs andere aus Serbien, drei aus Polen. Die Herkunftsländer seiner Doktoranden spannten einen Bogen von Kanada über England, Belgien und die Niederlande bis ins ferne Indien.
Sicher nicht alle, aber einige der teils als Studenten, teils als bereits ausgebildete Wissenschaftler an Wundts Institut Anwesenden verließen Leipzig mit präzisierten Vorstellungen hinsichtlich einer naturwissenschaftlich ausgerichteten Psychologie und gründeten oder reorganisierten andernorts Institute, die zwar nicht unbedingt Abziehbilder der Leipziger Einrichtung waren, die aber auf jeden Fall einen Teil der Leipziger Ideen transportierten. Im folgenden wird ein Überblick über die prominentesten Gäste, Studenten und Assistenten an Wundts Institut und deren späteren Werdegang gegeben, wobei die Position ihrer Nennung ausschließlich durch das Majorat bestimmt ist.
Zu einem der ersten Teilnehmer an Wundts experimentellen psychologischen Studien zählte G. Stanley Hall (1844 - 1924), der später Präsident der Clark University in Worcester, MA, USA, wurde und der sich als ein bedeutender Vertreter der amerikanischen Entwicklungspsychologie das Verdienst erwarb, am 8. Juli 1892 die weltweit erste Wissenschaftlervereinigung von Psychologen in Form der American Psychological Association (APA) gegründet zu haben.
Ebenfalls ein Gast der ersten Jahre war der bedeutende Psychiater und Wundts Freund Emil Kraepelin (1856 - 1926), der später als Professor der Psychiatrie und Direktor der psychiatrischen Klinik in München seine bei Wundt gesammelten Erkenntnisse in die psychiatrische Diagnosepraxis einfließen zu lassen versuchte.
Friedrich Kiesow (1858 - 1940) war einer von Wundts Assistenten, wurde später Professor in Turin und gründete in den Jahren 1919/20 zusammen mit A. Gemelli die Fachzeitschrift Rivista di Psichologia.
James McKeen Cattell (1860 - 1944) geboren in Easton, PA, USA, der 1886 bei Wundt mit der Arbeit Psychometrische Untersuchungen promovierte, wurde sein erster (Volontär-) Assistent, in einer Zeit, in der dem jungen Institut noch keine etatmäßigen Assistenten zustanden, indem er - wie Wundt in seinen Memoiren Erlebtes und Erkanntes, Kap. 39, schreibt - an ihn, Wundt, herantrat und "mit bekannter amerikanischer Entschlossenheit" erklärte "Herr Professor, Sie bedürfen eines Assistenten, und ich werde Ihr Assistent sein!" und dies Amt, wie sich Wundt weiter erinnert, "natürlich unentgeltlich" versah, "bis die Universität durch die offizielle Anstellung eines besoldeten Assistenten helfend eingriff." Unmittelbar nach seiner Promotion ging Cattell in die USA zurück, leistete dort Pionierarbeit in experimenteller Psychologie und wurde später Professor für Psychologie und Direktor des psychologischen Instituts an der Columbia University, N.Y.
August Kirschmann (1860 - 1932), geboren in Oberstein a. d. Nahe, promovierte als einer von Wundts Assistenten 1890 zum Thema Über die quantitativen Verhältnisse des simultanen Helligkeits- und Farbenkontrastes, ging 1893 nach Kanada an die Universität von Toronto (Ontario) und übernahm dort das von James Mark Baldwin (s.u.) gegründete erste psychologische Laboratorium nicht nur Kanadas, sondern des gesamten britischen Empires, baute dieses aus, brachte die unter Baldwin, der noch anderen Lehrverpflichtungen nachzukommen hatte, nur schleppend angelaufene experimentelle Arbeit richtig in Gang, baute das Labor aus und blieb dort bis 1909.
James Mark Baldwin (1861 - 1934), der in Princeton studiert und sich als Stipendiat fast ein Jahr an Wundts Institut aufgehalten hatte, wurde 1889 an die Universität von Toronto (Ontario) auf den Lehrstuhl für Logik, Metaphysik und Ethik berufen. Er begeisterte sich wie damals viele Amerikaner für die experimentelle Psychologie, wie er sie bei Wundt kennengelernt hatte, und gründete dort gegen anfänglichen Widerstand das erste Labor für experimentelle Psychologie im gesamten britischen Empire. Nach nur vier Jahren ging er zwar zurück nach Princeton, sorgte aber vor seiner Rückkehr noch dafür, daß ein Schüler Wundts, nämlich August Kirschmann, zum Leiter des Labors berufen wurde (s.o.).
Oswald Külpe (1862 - 1915), geboren in Candau (Kurland) nahe Tukkum in Lettland, war ein weiterer Assistent an Wundts Lehrstuhl und promovierte 1897 mit der Arbeit Zur Theorie der sinnlichen Gefühle. Er gründete 1896 das Psychologische Institut an der Universität Würzburg, an dem man sich mit neuen Methoden der Untersuchung von Denk- und Willensprozessen widmete. An Külpes Institut, das etwas später unter dem Namen "Würzburger Schule" bekannt werden sollte, waren in der Liste der Mitarbeiter und Doktoranden Namen wie Narziß Ach (1871- 1946), Karl Bühler (1879 - 1963), Karl Marbe (1869 - 1953), Max Wertheimer (1880 - 1943) oder Kurt Koffka (1886 - 1941), letztere wiederum Wegbereiter der Gestaltpsychologie, zu finden. Mit seiner Schrift Über Ausfrageexperimente und über die Methoden zur Psychologie des Denkens aus dem Jahr 1907 kritisierte Wundt die Methoden der Würzburger Schule zwar harsch, blieb aber seinem ehemaligen Schüler Külpe über die Jahre hinweg stets gewogen.
Ernst Meumann (1862 - 1915), ein gebürtiger Uerdinger, der zunächst ein vollständiges evangelisches Theologiestudium abgeschlossen hatte, um dann Philosophie und Psychologie zu studieren, kam 1891 zu Wundt nach Leipzig und wurde sein Assistent, ging später als Dozent nach Zürich, hatte seit 1911 in Hamburg eine Professur für Philosophie, insbesondere Psychologie und gilt als einer der bedeutendsten Begründer der Pädagogischen Psychologie im deutschsprachigen Raum.
Charles Spearman (1863 - 1945), geboren in London, promovierte 1905 unter Wundt zum Thema Die Normaltäuschungen in der Lagewahrnehmung, arbeitete später noch mit Külpe in Würzburg zusammen (s.o.), ging zurück nach England, wurde Professor am University College in London und richtete dort ein experimental-psychologisches Labor ein.
Hugo Münsterberg (1863 - 1916), geboren in Danzig, heute das polnische Gdansk, promovierte 1885 bei Wundt mit der Arbeit Die Lehre von der natürlichen Anpassung in ihrer Entwicklung, Anwendung und Bedeutung und wurde 1892 erst 29-jährig von
William James an die Harvard University gerufen. Nach einer kurzen Zeit als a.o. Professor in Freiburg übernahm Münsterberg im Jahr 1897 eine Professur für experimentelle Psychologie an der Harvard University und baute dort ein Labor nach Leipziger Vorbild auf. 1916 erlitt Münsterberg, der sich u.a. intensiv mit Fragen der Wirtschaftspsychologie beschäftigte, den Herztod während einer Vorlesung.
Der in Chichester, England, geborene Edward B. Titchener (1867 - 1927), den man gelegentlich auch "Wundts Apostel in Amerika" nannte, promovierte 1892 bei Wundt zum Thema Über binoculare Wirkungen monocularer Reize, folgte anschließend einem Ruf an die Cornell University und sorgte für die Verbreitung von Wundts Bewußtseinspsychologie in den USA.
Wilhelm Wirth (1876 - 1952) aus Wunsiedel studierte zunächst drei Semester lang Jura, um dann ins Hauptfach Philosophie mit den Nebenfächern Mathematik und Physik zu wechseln. Beeindruckt von der experimentellen Ausrichtung auf dem III. Kongreß für Psychologie, der 1896 in München stattfand, wählte Wirth diese Spezialisierung und wurde 1897 promoviert. Nach einem Aufenthalt in Leipzig bot ihm Wundt 1900 die Stelle eines zweiten Assistenten an, die Wirth annahm und die ihm die Habilitation noch im selben Jahr ermöglichte. 1901 wurde Wirth erster Assistent mit der Verantwortung für die methodische und mathematische Ausbildung. 1902 begann Wirth mit der Herausgebertätigkeit des Archiv[s] für die gesamte Psychologie. 1908 machte Wundt Wirth zum Mitdirektor des Instituts, und 1917, nach vorhergegangenen Kompetenzstreitigkeiten mit Wundt, wurde Wirth der Leiter des "Psychophysischen Seminars", einer selbständigen Universitätseinrichtung, während sein Studienfreund und Kollege Felix Krüger (1874 - 1948) die offizielle Nachfolge des in diesem Jahr emeritierten Wilhelm Wundt antrat.
John M. McEachran (1878 - 1971), geboren in Glencoe (Ontario), Kanada, promovierte unter Wundt 1910 zum Thema Pragmatismus und leistete trotz seiner eigentlich philosophischen Ausbildung Laborarbeit unter Wilhelm Wundt, Wilhelm Wirth und Otto Klemm. Nach seiner Rückkehr nach Kanada wurde er der erste Professor für Philosophie einschließlich Psychologie an der Universität von Alberta.
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Drei vollständige Dissertationen |
Für ein genaueres Bild davon, wie und zu welchen Themen unter Wundt experimentell gearbeitet wurde, sind im folgenden drei Dissertationen vollständig aufgenommen, nämlich:
Max Friedrichs Dissertation mit dem Thema Über die Apperzeptionsdauer bei einfachen und zusammengesetzten Vorstellungen aus dem Jahr 1881, die, wie bereits gesagt (s.o.), die allererste experimentell konzipierte Arbeit unter Wundt war und in der Friedrich zunächst die Methode und die Technik der Versuche darstellte, dann die Reaktionszeit auf einfache Lichtreize in Form monochromer Flächen studierte, dann mit etwas komplexeren visuellen Stimuli wie Zahlen oder einfachen geometrischen Figuren experimentierte und schließlich den Einfluß von Übung und Ermüdung auf besagte Prozesse erkundete,
James McKeen Cattells Arbeit Psychometrische Untersuchungen von 1886, in der er die Frage nach dem zeitlichen Verlauf psychischer Phänomene stellte und nach einer Beschreibung der verwandten Apparate und ihrer spezifischen Probleme sowie der angewandten Methoden zunächst die Reaktionszeit, jene Zeit also, die zwischen der Applikation eines Stimulus' und der für die im jeweiligen Versuch spezifizierten Reaktion des Probanden auf diesen Stimulus vergeht, untersuchte, anschließend die Unterscheidungszeit als die Zeit, die der Proband braucht, um nicht nur auf den Onset eines Stimulus' schnellstmöglich zu reagieren, sondern vor der Reaktion das Vorliegen eines speziellen Stimulus zu identifizieren, unter die Lupe nahm, mit Experimenten zur Wahlzeit die Zeit, die zwischen der Applikation eines zu identifizierenden Stimulus und einer stimulusspezifischen Reaktion verstrich, erkundete, um schließlich den Einflüssen von Aufmerksamkeit, Ermüdung und Übung auf den Zeitverlauf psychischer Prozesse nachzugehen,
und schließlich Charles Spearmans Dissertation zum Thema Die Normaltäuschungen in der Lagewahrnehmung, in der es um Phänomene fehlerbehafteter Lokalisation von taktilen Reizen bei Reizung verschiedener Gliedmaßensegmente und verschiedenen Raumwinkeln der den gereizten Segmenten nächstliegenden Gelenke geht.
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Alle Dissertationen im Überblick |
Für alle, die sich einen Überblick über die Gesamtheit der unter Wundt angefertigten Dissertationen verschaffen wollen, liegen die einhundertsechsundachtzig Arbeiten einmal nach den Namen der Autoren, ein andermal nach dem Jahr ihrer Anfertigung sortiert vor.
Und als besonderer Service für diejenigen, die aus Forschungszwecken schnellen Zugriff auf die Arbeiten brauchen, ist für alle diese Dissertationen, soweit eruierbar, ihr Standort und ihre Signatur mitaufgeführt.
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