Nachrichten aus der Redaktion

Literatur ist Medium der Verständigung zwischen Menschen. Der Literaturwissenschaftler Gottfried Willems charakterisierte in diesem Sinn die zentrale Aufgabe der Literatur als „wertende Verständigung über Werte“. Lit4School sammelt Literatur, die insofern wertend ist, als sie ausspricht oder zu erkennen hilft, dass keine Wertunterschiede zwischen Menschen bestehen, auch wenn diese noch so verschieden sind. Aus Anlass des Christopher Street Days (CSD) stehen literarische Beispiele im Fokus, die sich der Vielfalt sexueller Identitäten und Rollen zuwenden, literarische Beispiele, die Probleme zum Thema machen, die Menschen erwachsen, die einer vermeintlich natürlichen Norm zuwiderhandeln. 

Der Christopher Street Day ist den Stonewall-Aufständen in den 1960er Jahren entwachsen, als sich LGBT-Personen gegen die Polizeiwillkür in den USA zur Wehr setzten. Seitdem finden jedes Jahr weltweite Aktionen zwischen Juni und August statt, um für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung queerer Menschen zu demonstrieren. Für jede*n, der*die Interesse hat, mehr darüber zu lesen, seien zwei Angebote empfohlen: Zum einen die biedere Darstellung dessen, was der Fall ist: Sie liefert die Bundeszentrale für politische Bildung. Zum anderen eine der vielen Aktionsseiten, hier die des CSD Leipzig, die Auskunft über Projekte, Demos und Forderungen gibt.

Lit4School möchte an dieser Stelle Texte empfehlen, in denen Probleme verhandelt werden, auf die der Christopher Street Day aufmerksam macht. Es werden einige Beispiele aus der Lit4School-Datenbank versammelt, die Schüler*innen helfen können, sowohl eigene Identitäten auszubilden als auch über sexuelle Diversität zu sprechen.

Auf unserer Liste befinden sich u.a. zwei Rapsongs (Meine MamasQueere Tiere), Beispiele aus der Kinder- und Jugendliteratur (Alles Familie!Die Mitte der Welt), ein mittelhochdeutscher Text (Ein Adam, der ein Even hât ) und eine Autobiographie (Ich bin Linus).

Für die Vorschule/ Grundschule:

Riccardo Simonetti: Raffi und sein pinkes Tutu. Community Editions 2019.

Alexandra Maxeiner/Anke Kuhl: Alles Familie! Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von Papas früherer Frau und anderen Verwandten. Klett Kinderbuch 2010.

Jessica Love: Julian ist eine Meerjungfrau. Knesebeck 2018.

Für weiterführende Schulen:

Linus Giese: Ich bin Linus. Rowohlt Polaris 2020.

Sukini: Meine Mamas. 2018.

Sookee: Queere Tiere. 2017.

Kristina Aamand: Wenn Worte meine Waffe wären. Dressler 2018.

Becky Albertalli: Nur drei Worte. Carlsen 2015.

Andreas Steinhöfel: Die Mitte der Welt. Carlsen 1998.

Ein Adam, der ein Even hât. 1230.

— Frieder Stange


 Am 22. Juni 2021 erhielt Judith Schalansky den Gutenbergpreis der Stadt Leipzig. Mit dem Preis ehrt die Stadt Leipzig besondere Verdienste um das Medium Buch, insbesondere um die Förderung der Buchkunst. Judith Schalansky ist Schriftstellerin, Herausgeberin und Typographin. Ihre Bücher bilden nicht nur eine Sammlung von Textseiten, sondern eigene, kleine Kunstwerke, die gelesen, befühlt und aus unterschiedlichen Blickwinkeln immer wieder neu betrachtet sein wollen. – Einen vorzüglichen Eindruck ermöglichen: Der Hals der Giraffe (2012) oder Verzeichnis einiger Verluste (2018).

Das Buch hat eine lange Geschichte. Waren zunächst Papyrus oder Pergament die Materialien aus denen Buchseiten bestanden, wird ab dem 14. Jahrhundert auch in Deutschland das teure Pergament durch Papier als Beschreibstoff ersetzt; seit dem 15. Jahrhundert werden die Texte in Büchern mit beweglichen Lettern gedruckt und nicht mehr von Hand geschrieben; seit dem 19. Jahrhundert setzten sich Offsetdruckverfahren durch und erfahren heute zunehmend Konkurrenz durch digitale Drucktechniken. Immer häufiger findet überhaupt kein Buchdruck mehr statt, es entsteht überhaupt kein physisches Druckerzeugnis mehr: aus dem Buch wird ein E-Book, der Screen ist das neue Papier. 

Vielleicht erleben wir heute etwas, dass auch den Menschen des 15. Jahrhunderts (wenn auch nur wenigen, nämlich denen, die lesen konnten, bewusst), widerfuhr? Damals löste die gedruckte Schrift die Handschrift ab; heute verdrängt das digitale Buch das analoge, papierene Buch. Manch eine*r hält dennoch fest am Buch, hält es wert, schätzt die Haptik, den Geruch, die Eselsohren, Kaffeeflecken, das Rascheln beim Umblättern der Seiten.

Das Team von Lit4School hat sich gefragt, wie seine einzelnen Mitglieder zum Buch stehen: Lesen sie noch im gedruckten Buch aus Papier? Oder hat das Wischen auf einem E-Book-Reader das Umschlagen von Seiten abgelöst? Sind Literaturliebhaber*innen immer auch Bibliophile, also Buchliebhaber*innen?

Frieder Stange: Ich bin Buchleser, nahezu ausschließlich. Ich erlebe es immer wieder, dass es für mich leichter ist, Gelesenes abzuspeichern und zugleich präsent zu halten, wenn ich in einem Buch und nicht nur am Bildschirm gelesen habe. Wenn ich darüber nachdenke, warum das so ist, finde ich natürlich keine eindeutige Antwort. Sicher spielt die Gewöhnung eine Rolle. Allerdings habe ich den Eindruck, dass es mir hilft, mich an Gelesenes zu erinnern, wenn ich es ‚räumlich‘ verorten kann: dieses war relativ am Anfang, da war der Stapel gelesener Seiten noch klein, jenes war am Ende, aber auf einer linken Seite, relativ weit oben, ich musste gerade blättern, bevor ich es lesen konnte. So oder so ähnlich könnte ein Informationspuzzle zu einer bestimmten Textstelle zusammengesetzt sein.

Prof. Dr. Silke Horstkotte: Ein persönliches Bekenntnis: ich habe eine große Schwäche für schöne gedruckte Bücher! In meiner Schulzeit habe ich in der Buchbinder-AG selber Bücher gebunden. Wenn ich heute ein Buch mit Fadenheftung in Händen halte, bekomme ich schwache Knie. Besonders liebe ich die Bände der Anderen Bibliothek (auch wenn die inzwischen nicht mehr von Hand gesetzt werden) und die schön gestalteten Bücher aus dem Berenberg- und aus dem Guggolz-Verlag. 

Dr. Karolin Freund: Wenn ich vor meinem Bücherregal stehe und ein Buch herausgreife, kann ich mich oft nur noch an Bruchstücke des Inhalts erinnern. Aber ich weiß noch genau, was mich bewegt hat, an welchem Ort ich es gelesen habe, wer es mir geschenkt hat. Bücher sind somit viel mehr als Staubfänger, die Platz wegnehmen: sie sind mit Lebensabschnitten fest verbundene Erinnerungsstücke.

Nils Rosenkranz: Gedruckte Bücher haben für mich einen ganz besonderen Charme. Es ist doch einfach etwas Schönes, ein Buch anzufassen, den eigenartigen Geruch wahrzunehmen, sich von Seite zu Seite zu blättern. Auch mich erinnern Bücher an konkrete Lebenssituationen, wenn ich sie im Regal sehe. Man kann es dann in die Hand nehmen und erneut eintauchen, sich erinnern. Manchmal fällt dabei auch etwas Sand oder ein als Lesezeichen umfunktioniertes Reiseticket zwischen den Seiten heraus. Mit digitalen Büchern konnte ich bislang noch nicht ganz so viel anfangen, auch wenn ich deren Vorzüge sehe.

Joachim Kern: E-Books spielen für mich nur als preisgünstige Alternative in der Fachliteratur eine Rolle. Belletristik funktioniert für mich nur in der klassischen Buchform. Ich möchte den Fortschritt in meiner Lektüre unmittelbar sehen, schnell auf eine zurückliegende Passage zurückblättern können. Ähnlich wie Frieder fällt mir die Erinnerung an gedruckte Seiten leichter und genau wie Nils liebe ich es, kleine Souvenirs oder Widmungen in Büchern wiederzuentdecken.

Katharina Kraus: Bücher sind treue Begleiter. Das Haus zu verlassen ohne ein Buch, ist selten eine gute Entscheidung. Zum Lesen und zu Eigenmachen braucht es einen Bleistift. Aber schöne Ausgaben, muss ich vorsichtig lesen, denn Buchrücken, denen man das Gelesen-Worden-Sein ansieht, eingerissene Schutzumschläge oder gewelltes Papier sind schmerzhaft anzusehen.  


Mascha Kaléko wird am 7. Juni 1907 im heutigen Polen, damals Österreich-Ungarn, als Kind jüdischer Eltern geboren. 1975 stirbt sie in der Schweiz. Für ihr Leben sind, wie für viele Jüdinnen und Juden dieser Zeit, Flucht, Exil, Tod und Verlust, Heimat und Heimatlosigkeit prägende Wirklichkeit. Vieles davon findet sich verarbeitet in ihren Gedichten, manches direkt, anderes nur angedeutet.

In knapper, einfacher Form etwas sagen, das ist ihre Sache. Die Gedichtsammlung, mit der sie 1933 für literarisches Aufsehen sorgt, heißt nicht von ungefähr Das lyrische Stenogrammheft. – Ein ungewöhnlicher Titel. Einer, der fehl am Platz wirkt. Gehen wir ihm wörtlich nach, landen wir bei ‚Stenographie‘. Das Wort setzt es sich aus den griechischen Ausdrücken für ‚eng‘ und ‚ritzen/schreiben‘ zusammen. Anfänglich befremdet, können wir uns nun sagen: Wie passend für die Dichtkunst! Wie natürlich der Transfer aus dem Büro auf das Cover eines Gedichtbändchens!

Es verwundert nicht, wenn Mascha Kalékos Gedichte dieser Schaffensperiode der Neuen Sachlichkeit zugeordnet werden, einer, wenn nicht gar der prägendsten Kunstrichtung der Weimarer Republik. Sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur vollzieht sich eine Hinwendung zur nüchternen Darstellung dessen, was (sichtbar) ist. Beobachtung der sie umgebenden Wirklichkeit ist die Grundvoraussetzung auch für Mascha Kalékos Gedichte, Mitteilung der Beobachtungen ihr Ziel. Mascha Kaléko selbst schreibt in einem Gedicht mit dem Titel Kein Neutöner gewissermaßen das poetische Programm dazu. In der letzten Strophe heißt es dort: Weiß Gott, ich bin ganz unmodern, / Ich schäme mich zuschanden: / Zwar liest man meine Verse gern, / Doch werden sie – verstanden! – Bei diesem, ganz unmodernen Verstehen könnte eine Beschäftigung mit ihren Gedichten im Deutschunterricht ansetzen. Nahezu jede*r findet in ihren Gedichten Greifbares, Situationen, die auch der eigenen Erfahrung entnommen sein könnten, Gedanken, von denen Leser*innen meinen, es seien eigene, für die bisher nur die Worte fehlten. Indem Leser*innen etwas von Mascha Kalékos Gedichten verstehen, lernen sie die Zeit zwischen den Weltkriegen, vor allem die Großstadt der Weimarer Republik und ihre Menschen mit den Augen Mascha Kalékos sehen. So eröffnet sie, gleichberechtigt neben Erich Kästner, Kurt Tucholsky und anderen, meist männlichen Autoren, neue Blickfelder auf eine Zeit und ihre Gesellschaft, die uns bis heute zu denken geben sollte.  

Auch wenn Mascha Kalékos Gedichte schon allein genug Gelegenheiten des Nachdenkens und Innehaltens bieten, wagen wir noch einen Blick über den Tellerrand, oder vielmehr: wir wagen zu hören. Dota Kehr, man könnte sie wohl am ehesten als Liedermacherin bezeichnen, nimmt sich einiger der Gedichte Mascha Kalékos an und vertont sie. Herausgekommen ist dabei ein 2020 veröffentlichtes Album mit dem schlichten Titel Mascha Kaléko. Großstadtlyrik: karg, analytisch – und dennoch lyrisch-musikalisch.

Wenn Hörer*innen Mascha Kalékos Gedichte lesen, wenn Leser*innen Dota Kehrs Lieder hören – dann findet Aneignung von Lyrik geradezu in ursprünglicher Form statt. Dota Kehr tritt den Beweis an, dass Mascha Kaléko in ihren Gedichten lebt, dass ihre Gedichte bis heute berühren, dass ihre Gedichte nicht zeitlos sind, sondern gerade heute an der Zeit sind.

–Frieder Stange


Vergiß / die Härte / Verzeih / das Übel – Die Dichterin dieser Worte heißt Rose Ausländer. In einer jüdischen Familie wurde sie vor 120 Jahren, am 11. Mai 1901, als Rosalie Beatrice Scherzer geboren. Ihr Geburtsort Czernowitz, Hauptstadt der Bukowina, war sprachlich und kulturell plural, geprägt und belebt von Menschen verschiedener Ethnizitäten. Rund ein Drittel der Bewohner*innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren jüdisch. Die meisten von ihnen sprachen Deutsch. Heute in der Ukraine gelegen, gehörte Czernowitz bis zum Ersten Weltkrieg zu Österreich-Ungarn, bis 1940 zu Rumänien, nach dem Zweiten Weltkrieg zur Sowjetunion. Bekannt ist Czernowitz als Herkunftsort bedeutender Dichter*innen und Denker*innen: Paul Celan, Rose Ausländer, Ariadne Löwendal, Selma Meerbaum-Eisinger. Weil sie Vertriebene, Flüchtende und gezwungen waren, sich immer wieder neu zurechtzufinden, wurden sie, wie die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Amy-Diana Colin schreibt, „geistige Mittler zwischen den Kulturen“. 

Rose Ausländers Lebensweg ist kein geradliniger, sondern einer der Sprünge, Gefahren, Wirrnisse und der Krankheit. Geradezu beispielhaft vereint ihre Familie Ostjüdisches (väterlicherseits) und Westjüdisches (mütterlicherseits) miteinander, treffen orthodoxe Traditionen mit der bildungsbürgerlichen Moderne zusammen. Früh beginnt Rose Ausländer, sich mit Philosophie und Literatur zu beschäftigen, setzt dies auch im Rahmen ihres Studiums fort. 1921 wandert sie in die USA aus, kehrt 1931 aber, um ihre kranke Mutter zu pflegen, nach Czernowitz zurück. Hier überlebt sie die NS-Zeit im Ghetto und in ständiger Angst vor Deportation. Nach dem Krieg verlässt sie Czernowitz, kehrt wieder in die USA zurück. Doch auch dort bleibt sie nicht für immer. Düsseldorf wird schließlich ihre letzte Station. Nach langer Krankheit stirbt sie 1988. Unzählige Gedichte bleiben der Nachwelt erhalten. Zeugnisse einer nur noch in Worten existierenden Welt.     

Der schmale Gedichtband Brief aus Rosen trägt auf dem Titel ein Gemälde von Alexej von Jawlensky: Brauntöne, Ocker, etwas Weiß und wenige schwarze Linien lassen ein Gesicht entstehen, bei dem der Bildtitel Stummer Schmerz sofort einleuchtet.

Frage

Wind mischt Farben

Ich suche mein

Gesterngrün

Im verwandelten Wald

Rose Ausländers Gedichte, vor allem ihre späten, erscheinen oft wie die sprachliche Fassung von Bildern. Besonders Assoziationen zu Gemälden von Alexej von Jawlensky und Marc Chagall drängen sich auf. Neben der Recherche über Czernowitz und seine kulturelle Vielfalt bietet sich auch der Dialog von Bild und Text als Ausgangspunkt für eine Unterrichtseinheit zu Rose Ausländer an.

Wir empfehlen:

— Frieder Stange


Es gibt Gedenktage, die in Deutschland kaum jemand kennt. Der Gedenktag an den Aufstand im Warschauer Ghetto, der am 19. April 1943 begann, ist vermutlich solch einer. Wenn die Geschichte des Warschauer Ghettos heutzutage und hierzulande ins Bewusstsein tritt, dann wohl meist im Zusammenhang mit dem ikonisch gewordenen Kniefall Willy Brandts im Dezember 1970. 

Erinnerungen an die Shoah sind selten Erinnerungen an jüdischen Widerstand. Dass es ihn gab, beweisen unter anderen die Ereignisse zwischen April und Mai 1943 im Ghetto der Stadt Warschau. 27 Tage leisteten bewaffnete jüdische Untergrundkämpfer*innen erbitterten Widerstand gegen die Deportation der zu diesem Zeitpunkt wohl 70.000 Insassen des Ghettos in die Arbeits- und Vernichtungslager im Osten. Auch wenn der Aufstand nach einem Monat niedergeschlagen und das Ghetto dem Erdboden gleichgemacht wurde, nahezu alle Beteiligten und Bewohner*innen des Ghettos unmittelbar ermordet oder deportiert wurden, macht er Hoffnung, weil er zeigt, wozu Mut und Solidarität Menschen befähigen können. 

Wie kann man Schülerinnen und Schülern die Annäherung und die Auseinandersetzung mit diesem Thema ermöglichen? Lit4School meint naheliegender Weise: Indem Kinder über und von dieser Zeit lesen! Zwei Kinder- bzw. Jugendbücher stehen hier für viele andere. Das eine erschien 2015 und heißt Flügel aus Papier; das andere heißt Die toten Engel und ist einige Jahrzehnte älter, es erschien 1963. 

Zuerst zu dem Buch für die Jüngeren. Der Held und Ich-Erzähler in Marcin Szczygielskis Flügel aus Papier heißt Rafal, er wohnt bei seinem Großvater; dass sie im Ghetto leben, erschließt sich Leser*innen nur, wenn sie historische Vorkenntnisse mitbringen, der Erzähler erzählt nur, was er weiß, und sein Horizont ist der eines Kindes im Grundschulalter. Selbst schlimmste Ereignisse wie die Deportation seiner Eltern erfasst er nicht, aber seine Unwissenheit lässt ihn leben. Er glaubt seine Eltern auf einer Reise, für ihn geht das Leben weiter und er kann feststellen: Das ist also kein Grund zu Traurigkeit, sondern zur Freude. Da aber auch Rafal merkt, wie schrecklich seine Umgebung ist, entflieht er der Wirklichkeit, indem er auf den Flügeln aus Papier immer wieder in eine bessere Welt, eine zukünftige, schwebt. Wer glaubt ihm also nicht, wenn er sagt: Die Bibliothek ist mein Lieblingsort im ganzen Bezirk? – Ein aktueller Eintrag zu diesem Kinderbuch bei Lit4School ist in Arbeit!

Die toten Engel von Winfried Bruckner konfrontiert im Gegensatz dazu die Leser*innen sofort mit der harten Wirklichkeit. Friedhofsnachschub, so werden die neu im Ghetto Ankommenden genannt. Schwach, ausgehungert, krank, schleppen sie sich ins überfüllte Warschauer Ghetto. Erzählt wird von Menschen, die trotz der Grausamkeiten ihrer Umgebung ihre Menschlichkeit nicht verlieren: Eine Kinderbande um den Anführer Lolek schmuggelt Essen über die Mauer des Ghettos, verliert sich aber auch in den Geschichten eines Mädchens namens Wanda; Doktor Lersek hilft unbeirrt den Schwächsten und versucht, eine Typhusisolierstation einzurichten; schließlich bildet der bewaffnete Widerstand einen letzten Ausweg. 

Beide Romane erzählen nicht Wirkliches, sondern Mögliches. Es sind fiktionale Texte, aber solche, die auf eine konkrete historische Situation Bezug nehmen: auf die Geschichte des Warschauer Ghettos. Eine Beschäftigung mit diesen Büchern ist also eine besondere Form der Auseinandersetzung mit Geschichte. Lehrer*innen, die sich mit der Geschichte des Aufstandes und des Warschauer Ghettos näherhin in historischer Perspektive beschäftigen wollen, sei das frei verfügbare Bulletin des Fritz-Bauer-Instituts zum 70. Jahrestag des Warschauer Gettoaufstands ans Herz gelegt. 

— Frieder Stange und Anne Seeger


Zum fünfzigsten Mal wird 2021 der Internationale RomaDay begangen, der die vielfältige Kultur der Roma und Sinti sichtbar machen und für antiziganistische Diskriminierung sensibilisieren soll. Auch im Literaturunterricht können und sollen Sinti und Roma sichtbarer werden: wir empfehlen dafür die Lyrik-Anthologie Die Morgendämmerung der Worte, die 2018 in der bibliophilen Anderen Bibliothek erschienen ist und Gedichte von Sinti- und Roma-Autor*innen aus der ganzen Welt vereinigt. Auf Lit4School gibt es daraus zwei neue Einträge: zu Marianne Rosenbergs „Zwischen den Welten“ und zu dem aus dem Romanes übersetzten Gedicht „Geboren in Auschwitz, gestorben in Auschwitz„, das den Porajmos thematisiert, den NS-Genozid an den Sinti und Roma. Empfehlenswert als vorbereitende und informierende Lektüre für Deutschlehrkräfte und Literaturwissenschaftler*innen ist außerdem die Geschichte der Literatur über „Zigeuner“ von Klaus-Michael Bogdal Europa erfindet die Zigeuner, die 2011 im Suhrkamp-Verlag erschienen ist.

— Silke Horstkotte


Zwischen dem 6./7. April und Anfang Juli 1994 wurden in Ruanda schätzungsweise 1,1 Millionen Menschen ermordet, 100 Tage lang jeden Tag mehr als 10.000. Die genauen Fakten des Ruanda-Genozids sind in Deutschland wenig bekannt; eine genaue Beschäftigung im Schulunterricht lohnt auch deshalb, weil die Vorgeschichte, Planung und Durchführung ein Lehrstück über Völkermorde im 20. Jahrhundert sind. Zudem liegen literarische und filmische Verarbeitungen in deutscher und englischer Sprache vor, die im Unterricht behandelt werden können.

Zunächst die Fakten: Ruanda ist ein kleines Land im gebirgigen Osten Afrikas mit rund 13 Millionen Einwohnern und damit der höchsten Bevölkerungsdichte Afrikas. 90 Prozent der Menschen leben auf dem Land und arbeiten in der Landwirtschaft, die zumeist Subsistenzwirtschaft ist. Wie fast alle Länder Afrikas war auch Ruanda europäische Kolonie: bis zum Ersten Weltkrieg von Deutschland, dann von Belgien. Die Kolonialherren etablierten eine ethnische Differenzierung, sie machten Angehörige der vor allem in der Viehwirtschaft tätigen Bevölkerungsminderheit der Tutsi zur Oberschicht, bevorteilten sie gegenüber der vor allem im Ackerbau tätigen Bevölkerungsmehrheit der Hutu. Im Zuge einer Bevölkerungszählung ließ Belgien die ethnische Zugehörigkeit in den Pass eintragen: Aus einer vormals sozialen Hierarchie zwischen wohlhabenderen Viehbauern und ärmeren Ackerbauern war eine, sogar bürokratisch fixierte, ethnische, rassische geworden. Zu Beginn der 1960er Jahre erlangte Ruanda, wie zahlreiche andere afrikanische Staaten auch, seine Unabhängigkeit. In der Folge kam es zum Aufbau einer Mehrheitsherrschaft der Hutu und zu ersten größeren Massakern an Angehörigen der Bevölkerungsgruppe der Tutsi. 

Wir überspringen 30 Jahre, die von relativer Sicherheit und einem wirtschaftlichen und demographischen Aufschwung geprägt waren, und befinden uns nun am Anfang der 1990er – das Ende des Kalten Krieges geht auch Ruanda nicht unbemerkt vorüber. Demokratisierungsbemühungen, unterstützt vor allem von europäischen Staaten, scheinen die Machtposition des Hutu-Präsidenten Juvénal Habyarimana und seiner Anhänger zu schwächen, sodass diese zu einer brutalen Durchsetzung identitätspolitischer Anliegen greifen. Die rassistischen Gräben zwischen Hutu und Tutsi werden gezielt reaktiviert, breite Schichten der Bevölkerung machen sie sich zunutze: die Bauern aus Landknappheit, die Jugend in den Städten aus Perspektivlosigkeit – die Elite aus dem Willen zur Macht(erhaltung). Damit diese Vorteilsperspektiven zum Tragen kommen, es zur Enthemmung der Gewalt kommt, muss etwas mit den Menschen geschehen – und es geschieht. Zunächst wird der öffentliche Diskurs verändert, werden die Grenzen des Denk- und Sagbaren immer weiter verschoben, Stereotypen der Diffamierung der Tutsi in Öffentlichkeit und Medien stetig wiederholt, gesteigert und radikalisiert. In Ruanda ist dafür zu Beginn der 1990er Jahre das Radio Medium Nummer eins. Und indem die radikalsten rassistischen Meinungen, schließlich gar die Aufforderungen und Aufrufe zum Mord aus dem Radio kommen, aus dem bisher hauptsächlich staatstragende Mittteilungen tönten, sind sie gewissermaßen staatlich legitimiert, ist den Tätern letztlich Straffreiheit zugesichert: „In der agrarischen Gesellschaft war das Wort aus dem Äther die Wahrheit.“ (Lennart Laberenz)

Als am 6. April 1994 das Flugzeug des Präsidenten abgeschossen wird – die Verantwortlichen sind bis heute nicht ermittelt –, ist dies das Signal für den Beginn des Schreckens. Das Militär verteilt Granaten, junge Hutu-Männer bewaffnen sich mit Macheten, die zuvor gezielt aus China importiert wurden. Und immer sind die Stimmen der Moderator*innen aus dem Radio zu hören, die berichten, wo sich Tutsi versammelt haben – vielfach in Kirchen, auf Sportplätzen, in der Hoffnung, die Masse werde ihnen Schutz bieten –, aufrufen zum Mord, und dann wieder die Hits der 90er spielen. Rund 100 Tage lang ist die Gewalt Alltag, vor allem jugendliche männliche Hutu morden, brennen und vergewaltigen. In einem Interview berichtet ein Täter Jahre danach: „Wir haben die Tutsi nicht mehr als Menschen, nicht einmal mehr als Geschöpfe Gottes betrachtet.“ 

Hier endet der Versuch einer Annäherung an die Fakten. Das, was danach geschah und immer noch geschieht: Flucht, juristische Aufarbeitung, neue Gewalt, Krieg, erfordert, um annähernd sinnvoll und geordnet dargestellt werden zu können, weiteres Studium. Wir empfehlen interessierten Lehrkräften insbesondere das Kapitel „Rwanda’s Bones“ von Sarah Guyer in dem Band The Future of Memory.

Wie kann man sich dem schwierigen Thema Ruanda im Deutsch- oder Englischunterricht nähern? Wir empfehlen für den Deutschunterricht zwei literarische Texte von Autoren aus dem deutschsprachigen Raum, zwei Schweizern: Lukas Bärfuss und Milo Rau. Lukas Bärfuss erzählt in seinem Roman Hundert Tage eine Liebesgeschichte zwischen einem Schweizer Entwicklungshelfer und einer Hutu-Frau und fragt nach der tragischen Rolle der Entwicklungshilfe, danach, ob Ordnung nicht nur die Bedingung von Frieden, sondern zugleich auch Bedingung eines solchen Massenmords sei. Milo Rau thematisiert mit seinem Theaterprojekt Hate Radio die Rolle des Radios als Propagandawerkzeug. Er bringt den Sender RTLM auf die Bühne und stellt dort eine mögliche Sendestunde aus 1000 Stunden realem Sendematerial zusammen. Für den Englischunterricht eignet sich auch der Film Hotel Rwanda über den Hotelbesitzer Paul Rusesabagina (gespielt von Don Cheadle), der über 1200 Menschen vor den Mördern versteckte – ein ruandischer Oskar Schindler. Das ursprünglich französische Graphic Novel Deogratias liegt in englischer Übersetzung und mit einer Einleitung vor, es erzählt aus der Perspektive des Jungen Deogratias, der als Kindersoldat am Genozid mitwirkte, von den Traumata Ruandas nach dem Genozid.

— Frieder Stange


Der Internationale Transgender Day of Visibility findet jedes Jahr am 31. März statt und soll Aufmerksamkeit wecken für trans Personen, ihre Rechte und die Diskriminierung, die sie häufig erfahren. Der Transgender Day of Visibility wurde zum ersten Mal 2009 in den USA begangen und findet seit 2014 weltweit statt. In Deutschland beteiligen sich Initiativen und Vereine in zahlreichen Städten mit Aktionen, u.a. in Berlin, Freiburg, Halle, München, Stuttgart. In diesem Jahr weisen die Teilnehmer*innen besonders auf die sich international verschlechternde Rechtslage für trans Menschen hin und fordern für Deutschland die Abschaffung des veralteten Transsexuellengesetzes. So bezeichnet etwa die SPDqueer-Vizechefin Sarah Ungar den aktuellen Zustand in Deutschland als „enttäuschend, menschenverachtend und stigmatisierend. Eine progressive und mutige Entscheidung zugunsten eines menschenwürdigen Selbstbestimmungsrechts ist bisher in der Bundespolitik leider ausgeblieben.“ (Quelle) Gefordert werden unter anderem die Abschaffung des Begutachterzwangs und ein vereinfachtes Verfahren zur Namens- und Personenstandsänderung.

Lit4School empfiehlt zum Thema Trans das Memoir Ich bin Linus von Linus Giese, das aus der Innenperspektive schildert, „wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war“ – so der Untertitel des Buchs. Auch auf Englisch haben wir Empfehlungen zu Trans Rights.

— Silke Horstkotte


Heinrich Mann

Deutsch · 27 März 2021

Heute vor 150 Jahren, am 27. März 1871, wurde der Schriftsteller Heinrich Mann geboren. Ein Blick auf und in sein umfangreiches Werk lässt Erstaunliches zu Tage treten. In einer Zeit als deutschtümlich, kaiserlich und militaristisch Kernmerkmale der Geisteshaltung vieler deutscher Intellektueller waren, wendet er sich Frankreich zu, nimmt gesellschaftliche Missstände kritisch in den Blick und ruft zum Pazifismus auf. Es entstehen zahlreiche Romane, einige Dramen und unzählige essayistische, historische, aber auch dezidiert zeitbezogene Arbeiten: Zu seinen bekannten Romanen gehören Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen, die sogenannte Kaiserreich-Trilogie mit dem Roman Der Untertan als Höhepunkt, außerdem Die Jugend des Königs Henri Quatre und Die Vollendung des Königs Henri Quatre. Neben den belletristischen Texten schreibt Heinrich Mann Zeit seines Lebens Essays, die berühmtesten erscheinen unter dem Titel Geist und Tat. Franzosen 1780–1930. Nirgendwo ist seine immer unangestrengt wirkende glasklare Simplizität, geschult am französischen Vorbild, so offensichtlich. Auch diese Tatsache ist es, die Thomas Mann 1950 anlässlich des Todes seines Bruders würdigt. In Bezug auf Heinrich Manns Memoirenbuch Ein Zeitalter wird besichtigt schreibt er etwas, das diesen Blogbeitrag gewissermaßen einfordert: „Ja, ich bin überzeugt, daß die deutschen Schullesebücher des 21. Jahrhunderts Proben aus diesem Buch als Muster führen werden.“ – Er sollte Recht behalten. Heinrich Mann schaffte es in den Schulkanon, wenn auch mit einem anderen Werk, dem Roman Der Untertan. Nahezu mit preußischer Pünktlichkeit erscheint zum 150. Geburtstag Heinrich Manns eine Neuauflage dieser beißenden Satire auf das Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs (vollendet im Sommer 1914). Der Held, den diese Persiflage eines Bildungsromans begleitet, heißt Diederich Heßling. Diederich Heßling war ein weiches Kind, so beginnt es, aber aus dem weichen – also formbaren – Jungen wird ein autoritätsgläubiger Ehrgeizling, dessen Ziel, eins zu werden mit dem Kaiserreich, ihn zum Prototypen eines nach unten Tretenden und nach oben Buckelnden macht. Nichts scheint unausweichlicher als der Erste Weltkrieg und nichts unmöglicher, als ihn aufzuhalten. Parallelen zu unserer Welt, zu unseren Problemen zu finden, dürfte nicht schwerfallen: zu anschaulich, zu scharf werden die Mechanismen der wilhelminischen Gesellschaft gezeichnet, zu oft meint man, Konstellationen aus dem eigenen Alltag wiederzuerkennen, zu oft beobachtet man auch heute noch die „Sucht, zu befehlen und zu gehorchen“ (Kurt Tucholsky). – Gründe genug, Der Untertan wieder zur Schullektüre des 21. Jahrhunderts zu machen!

Nachschrift: Anlässlich des 150. Geburtstags strahlt 3sat am 27. März, 20.15 Uhr den Spielfilm Der Untertan (DDR 1951) aus. Eine bestechende Literaturverfilmung! (Und zugleich Brennglas deutsch-deutscher Geisteshaltung nach dem Zweiten Weltkrieg.) 

— Frieder Stange


Am 21. März wird weltweit der Internationale Tag gegen Rassismus begangen. An diesem Tag wurden im Jahr 1960 in der südafrikanischen Stadt Sharpeville 69 Menschen ermordet. Sie hatten sich mit 5000 anderen versammelt, ohne einen Pass bei sich zu tragen. Die Versammelten waren angetreten, sich verhaften zu lassen, so wie es die Rechtslage ihres Staates für diesen Fall vorsah – ziviler Ungehorsam in der Nachfolge Mahatma Gandhis. Die Ermordeten waren Schwarze Bürger*innen, die Täter Polizisten, Vertreter eines Staates, in dem die Segregationspolitik der Apartheid herrschte. Also eine Politik, die die schwarze Mehrheitsbevölkerung unterdrückte, vom öffentlichen Leben in weiten Bereichen ausschloss, Schwarze zu Menschen zweiter Klasse erklärte, um einer weißen Minderheit massive Vorteile zu verschaffen.

Der Ermordeten von Sharpeville gedenken wir in anderer Form als etwa der Opfer der Sachsenkriege Karls des Großen. Während diese Geschichte im allgemeinen Bewusstsein als abgeschlossen gilt und mit unserer Gegenwart lediglich so wie jede Vergangenheit als Vorzeit der Jetztzeit verbunden ist, ist die Geschichte des Massakers von Sharpeville aktuell. Das Gedenken der Opfer von 1960 ist zugleich ein Gedenken der Opfer jeglicher rassistischen Gewalt; ist ein Aufruf gegen Rassismus in unserer Gegenwart.

Rassismus gibt es tagtäglich und weltweit. Beobachtungen in Deutschland fördern ebenso alarmierende Befunde zu Tage wie anderswo. Bereits die offiziellen Zahlen des Bundesinnenministeriums zeigen es. In der Kategorie ‚Hasskriminalität‘ werden hier Straftaten gezählt, die durch gruppenbezogene Vorurteile motiviert sind: 2019 waren es 7909, die mit dem – problematischen – Vermerk ‚fremdenfeindlich‘ registriert wurden. 7909mal wurde also einem Menschen aufgrund seiner Herkunft, seines Aussehens, seiner Sprache, seiner Religionszugehörigkeit und vielem, das ihn in seinem Sosein auszeichnet, Leid zugefügt. Das sind lediglich die Vorfälle, die behördlich als Straftaten erfasst wurden, viele weitere bleiben im Dunkel.

Am 21. März wird aber nicht nur der Internationale Tag gegen Rassismus, sondern auch der Welttag der Poesie begangen. Möglicherweise fragt sich die eine oder der andere Leser*in: Wie kann man an 69 Todesopfer rassistischer Gewalt erinnern und zugleich die Schönheit sprachlicher Kunstwerke feiern? Einige beispielhafte Gedanken in dieser Richtung machen vielleicht deutlich, dass hier kein Widerspruch gesehen werden muss.

Stellen wir uns vor: Trister, grauer Alltag. Wir greifen zu einem Buch, beginnen zu lesen, lesen von Nuri, einem Mädchen aus Syrien, und Calvin, einem Jungen, einem Neonazi, wir lesen von den Schwierigkeiten, Anfeindungen und Ängsten die Nuri zu überstehen hat, lesen vom Hass und den Vorurteilen die Calvin und seine Freunde gegenüber Menschen wie Nuri haben, lesen davon, dass Nuri Calvin Nachhilfe gibt, lesen, dass Calvin sich in Nuri verliebt. lesen von dem Konflikt, in den ihn seine Liebe bringt. Wir lesen die letzte Seite und klappen das Buch zu. Und vielleicht haben wir Fragen, die bleiben: Warum sind solche Liebesgeschichten in unserer Welt die Ausnahme? Warum haben Vorurteile so viel Macht? Warum siegt so oft der Hass und nicht die Liebe? Was können wir tun, damit sich daran etwas ändert? – Peer Martins Jugendroman Sommer unter schwarzen Flügeln zeigt, dass Poesie nicht fehl am Platz ist, wenn es darum geht, Rassismus zum Thema zu machen. Im Gegenteil, sie bietet Gelegenheit, Wirklichkeit und Möglichkeit zu verbinden. Sie ist mehr als der Artikel in einer Zeitschrift, der zählbare Fakten über rassistische Verbrechen zusammenträgt, sie ist mehr als das Programm einer Organisation, das antirassistische Forderungspunkte zusammenstellt. Poesie kann Aufforderungscharakter in sich tragen, ohne aufzufordern, kann Fragen stellen, ohne zu fragen.

Lit4School ist angetreten, Beispiele zu sammeln, die dazu Chancen bieten. Viele Bücher und Gedichte schaffen es, Schülerinnen und Schüler für das Thema Rassismus zu sensibilisieren. Manche tun das direkter, ausdrücklicher, konkreter als andere. Wir empfehlen besonders folgende Titel; die Liste wird ständig aktualisiert:

Deutschsprachige Titel:

Kirsten Boie: Erwachsene reden. Marco hat was getan

Faber: Wer nicht schwimmen kann, der taucht

Yaa Gyasi: Heimkehren

Peer Martin: Sommer unter schwarzen Flügeln

Davide Morosinotto: Die Mississippi-Bande. Als wir mit drei Dollar reich wurden

Lukas Rietzschel: Mit der Faust in die Welt schlagen

Senthuran Varatharajah: Vor der Zunahme der Zeichen

Englischsprachige Titel:

Nana Kwame Adjei-Brenyah: Black Friday

James Barry: Black Kid in a New Place

Langston Hughes: That Is My Dream!

August Wilson: Fences

Hintergrundlektüre für Lehrkräfte (deutschsprachig):

Mohamed Amjahid: Der weiße Fleck: Eine Anleitung zu antirassistischem Denken

Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten

Tupoka Ogette: Exit Racism

Noah Sow: Deutschland schwarz weiß

Englischsprachig:

Afua Hirsch: Brit(ish): On Race, Identity and Belonging

Ibrahim X. Kendi: How to Be an Antiracist

Johny Pitts: Afropean

Anders Walker: The Burning House: Jim Crow and the Making of Modern America

— Frieder Stange


Am 5. Januar wäre Friedrich Dürrenmatt 100 Jahre alt geworden. Die Werke des Schweizer Autors gehören zum festen Kanon an deutschen Schulen, wobei insbesondere die Dramen Der Besuch der alten Dame und Die Physiker gerne und oft behandelt werden. Beide Texte waren bereits bei ihrer Veröffentlichung sehr erfolgreich, vor allem aber haben die moralischen Fragen und Probleme, die in den Dramen aufgeworfen werden, nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.

Dürrenmatts Produktivität wird diese enge Auswahl nicht gerecht, sein Gesamtwerk umfasst über 30 Dramen, Erzählungen und Hörspielen. Sein runder Geburtstag ist daher ein guter Anlass, weitere Texte des Schriftstellers in den schulischen Fokus zu rücken. Für einen medienverbindenden Unterricht dabei besonders spannend: Viele seiner Stoffe existieren in unterschiedlichen Versionen.

Ein Beispiel dafür ist Die Panne, ein auf einer Erzählung basierendes Hörspiel, das später sowohl eine Adaption für das Fernsehen als auch für das Theater erfuhr. Sämtliche Fassungen wurden von Dürrenmatt selbst oder unter seiner Mitarbeit verfasst. Der Plot ist schnell zusammengefasst und kann hier nachgelesen werden. Auf Grundlage dieser noch möglichen Geschichte – so der Untertitel der Erzählung – kann man sich im Unterricht vor allem mit der Frage nach individueller Schuld und Verantwortung beschäftigen.

Die verschiedenen Bearbeitungen des Stoffes bieten sich für einen Vergleich im Unterricht an. Neben den eindeutigen Parallelen sind es vor allem die Unterschiede, über die es sich zu sprechen lohnt. Neben gattungsspezifischen Phänomenen rückt dabei vor allem das Ende in den Mittelpunkt. Je nach Fassung überlebt der Protagonist oder begeht auf die eine oder andere Weise, von Schuldgefühlen geplagt, Suizid.

Doch auch über dieses Beispiel hinaus bieten sich viele Texte Dürrenmatts zur Lektüre an, verbinden sie doch einen kritischen Blick auf Gesellschaft und Individuum mit einer ironischen und humorvollen Sprache.

Joachim Kern


Seit 1996 ist der 27. Januar als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland ein gesetzlich verankerter Gedenktag. An diesem Tag wurde 1945 das KZ Auschwitz durch die Rote Armee befreit. Vielfältige Aktivitäten erinnern in diesem Jahr an die Opfer, unter anderem eine Gedenkstunde im Bundestag mit den Rednerinnen Charlotte Knobloch, Präsidentin der jüdischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, und der Publizistin Marina Weisband, digitale Aktionen der Gedenkstätten sowie zahlreiche social-media-Posts unter den Hashtags #wirerinnern und #weremember.

Dennoch wissen Schülerinnen und Schüler oft wenig über die Shoa. Wie der Geschichtsdidaktiker Meik Zülsdorf-Kersting erläutert, ist historische Bildung zu selten an den Interessen der Schülerinnen und Schüler ausgerichtet. Historische Ereignisse werden als Faktenwissen und mit einer feststehenden Bewertung vermittelt, oft ohne direkten Bezug zu gegenwärtigen Phänomenen der Schuldabwehr, der Täter-Opfer-Umkehr, von Rassismus und Antisemitismus in weiten Teilen der Gesellschaft, aktuell etwa in Gestalt strukturell antisemitischer Verschwörungsmythen.

Die Lektüre von Shoa-Texten im Deutschunterricht kann in diesem Zusammenhang wichtige Impulse für die historische Bildung und das Reflexionsvermögen von Schülerinnen und Schülern geben, weil Literatur als Medium der Erinnerungsarbeit historisches Geschehen anschaulich und aus der Innenperspektive von Figuren nachvollziehbar macht. Literatur transportiert Werte und regt zu eigener Auseinandersetzung an; dabei spielt die Literaturvermittlung im Unterricht eine entscheidende Rolle.

Lit4School enthält eine Reihe von Literaturempfehlungen für die Auseinandersetzung mit der Shoa, auch schon in jüngeren Klassenstufen; weitere Beiträge sind in Arbeit. Besonders empfehlen wir folgende Bücher:

  • Die Graphic Novel Peter in Gefahr erzählt eine wahre Geschichte über die Shoa in Ungarn. Das Buch stand 2020 auf der Empfehlungsliste für den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis und eignet sich gut für einen ersten Einstieg in das Thema in den Grundschulklassen 3 oder 4.
  • Das Bilderbuch Erikas Geschichte erzählt von einem Kind, das aus dem Deportations-Zug geworfen wurde. Erika kennt weder ihr Geburtsdatum noch ihren wahren Namen. Detaillierte, großformatige Zeichnungen bebildern Erikas Gedanken und Erinnerungen: wer waren ihre Eltern? Die Kombination aus Illustrationen und reflektierendem Text sowie das aufwendig gestaltete Cover mit herausnehmbaren Pappstern bieten vielfältige Möglichkeiten, das Buch in den oberen Grundschulklassen zu behandeln.
  • Sternkinder von Clara Asscher-Pinkhof ist ein sehr früher kinderliterarischer Shoa-Text und erschien im niederländischen Original erstmals 1946. Die Autorin, selbst Shoa-Überlebende, erzählt in Kurzgeschichten von Angst, Überleben und Tod der meist namenlosen Protagonisten. Besonders die Erzählungen aus dem ersten Teil des Buches eignen sich bereits für die Klassen 3 und 4; spätere Erzählungen eher für die Sekundarstufe 1.
  • Die Adaption des berühmten Tagebuch der Anne Frank als Graphic Diary kombiniert den Originaltext mit fiktiven Dialogen und lebendigen Illustrationen; sie eignet sich für die Klassenstufen 7 und 8. 
  • Auch der Roman Und im Fenster der Himmel von Johanna Reiss ist autobiografisch. Erzählt wird vom Überleben im Versteck; dabei führt die Ich-Erzählerin Lesende durch das Geschehen, schafft Authentizität und bietet Orientierung für den Wissens- und Erfahrungshorizont kindlicher Lesender. Ein zweiter Fokus des Romans liegt auf Widerstand und Hilfe für Jüdinnen und Juden durch nicht-jüdische Mitbürger*innen. Der Roman eignet sich für die Sekundarstufe 1, dabei sollte im Unterricht deutlich gemacht werden, dass Hilfe für Jüdinnen und Juden eine Ausnahme war – im Deutschen Reich gab es nur insgesamt 10.000 Helfer, das sind 0,16% der Bevölkerung.

Silke Horstkotte


Klasse 1-4

Bilderbücher

Manuela Adreani: Das Märchen von der Schneekönigin. Edizioni White Star 2019. ISBN 978-8863124002.

Lieve Baeten: Die kleien Hexe feiert Weihnachten. Oetinger 2018. ISBN 978-3789163128.

Bernadette / Gerda-Marie Scheidl: Ein Esel geht nach Bethlehem. Nord-Süd 2011. ISBN 978-3314100550.

Lori Evert / Per Breiehagen: Die wunderbare Weihnachtsreise. Fischer Sauerländer 2014. ISBN 978-3737351171.

Myriam Halberstam: Ein Pferd zu Chanukka. Ariella Verlag 2010. ISBN 978-3981382501.

Esther Kinsky: Eines Abends im Winter. Jakoby & Stuart 2011. ISBN 978-3941787445.

Mark-Uwe Kling / Astrid Henn: Der Ostermann. Carlsen 2017. ISBN 978-3551519351.

Astrid Lindgren / Harald Wiberg: Tomte Tummetott. Oetinger 1960. ISBN 978-3789161308.

Robert Schneider / Linda Wolfsgruber: Der Schneeflockensammler. Jungbrunnen 2020. ISBN 978-3702659462.

Erzählungen und Romane

Frida Nilsson / Anke Kuhl: Frohe Weihnachten, Zwiebelchen. Gulliver 2017. ISBN 978-3407749062.

Kirsten Boie: Weihnachten im Möwenweg. Oetinger 2005. ISBN 978-3789131585.

Film

Pettersson und Findus: Das schönste Weihnachten überhaupt. R: Ali Samadi Ahadi, 2016.

Klasse 5-7

Bilderbücher

Charles Dickens / Robert Ingpen: Eine Weihnachtsgeschichte. Knesebeck 2017. ISBN 978-3868739411.

Franz Fühmann / Jacky Gleich: Das Wintermärchen: Ein Märchen nach Shakespeare. Hinstorff 2009. ISBN 978-3356013306.

E.T.A. Hoffmann / Robert Ingpen: Nussknacker und Mausekönig. Knesebeck 2016. ISBN 978-3868739213.

Klaus Kordon / Jasmin Schäfer: Am 4. Advent morgens um 4. Beltz & Gelberg 2013. ISBN 978-3407820297.

Erzählungen und Romane

Margit Auer / Nina Dulleck: Die Schule der magischen Tiere: Eingeschneit. Carlsen 2019. ISBN 978-3551650467.

Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und das Vomhimmelhoch. Carlsen 2017. ISBN 978-3551556653.

Corinna Gieseler: Die fantastischen Abenteuer der Christmas Company. Hummelburg 2019. ISBN 978-3747800034.

Ben Guterson: Winterhaus. Freies Geistesleben 2020. ISBN 978-3772528910.

Gedichte

Agnes Hüfner: Weihnachten zu Hause. In: Peter Kohrs: Auf der Suche nach Bethlehem. Texte zum Thema Weihnachten. Klett 1986. ISBN 978-3122615802.

Erich Kästner: Der Dezember. In: ders.: Die dreizehn Monate. Atrium 2008. ISBN 978-3855359950.

Erich Kästner: Weihnachtslied, chemisch gereinigt. In: ders.: Morgen, Kinder, wird’s nichts geben. dtv 2014. ISBN 978-3-423-14353-0.

Ror Wolf: Wetterverhältnisse. https://www.lyrikline.org/de/gedichte/wetterverhaeltnisse-8251

Filme

Der Polarexpress. R: Robert Zemeckis, 2004.

Es ist ein Elch entsprungen. R: Ben Verbong, 2005.

Klaus. R: Sergio Pablos, 2019.

Ab Klasse 8

Erzählungen und Romane

Monika Beck (Hg.): Rentier, Raubmord, Rauschgoldengel. 24 Weihnachtskrimis von Heiligenhafen bis Zermatt. Knaur 2020. ISBN 978-3426526514.

Wolfgang Borchert: Die drei dunklen Könige. In: Peter Kohrs: Auf der Suche nach Bethlehem. Texte zum Thema Weihnachten. Klett 1986. ISBN 978-3122615802.

Susan Kreller: Schneeriese. Carlsen 2016. ISBN 978-3551315649.

Francis Duncan: Ein Mord zu Weihnachten. Dumont 2017. ISBN. 978-3832198640.

Johannes V. Jensen: Mortens Heiligabend. In: ders.: Himmerlandsvolk. Guggolz 2017. ISBN 978-3945370124.

Robert Genhardt: Die Falle. Fischer 2002. ISBN 978-3596157686.

Miljenko Jergović: Bethlehem. In: ders.: Mama Leone. Wieser 2008. ISBN 978-3851297331.

Drama

William Shakespeare: Was ihr wollt. Reclam 1986. ISBN 978-3150000533.

Gedichte

Christian Lehnert: Kasper, Melchior, Balthasar. In: ders.: Cherubinischer Staub. Suhrkamp 2018. ISBN 978-3518428191.

Czesław Miłosz: 1. Dezember. In: ders.: Gedichte. München: Hanser 2013. ISBN 978-3-446-241817.

Thomas Rosenlöcher: Das Flockenkarussell. Blüten-Engel-Schnee-Gedichte. Insel 2007.  ISBN 978-3458192961.

Friedrich Spee von Langenfeld: Ein kurtz Poëtisch Christ-Gedicht, vom Ochß, und Eselein by der Krippen. In: Gedichte des Barock. Reclam 1980. ISBN 978-3150099759.

Filme

Tatsächlich … Liebe. R: Richard Curtis, 2003.

Merry Christmas. R: Christian Carion, 2005.


Die liebenswerte Bromance setzt sich fort: Der tiefbegabte Rico und der hochbegabte Oskar gelten seit dem Band Rico, Oskar und die Tieferschatten als das Freundespaar und Detektivgespann der aktuellen Kinderliteratur schlechthin. 

Doch im neuesten Band Rico, Oskar und das Mistverständnis – man ahnt es – trennen sich ihre Wege. Rico ist zum ersten Mal verliebt und Oskar ist nicht bereit seinen besten Freund zu teilen. Dabei müssten sie gerade jetzt zusammenarbeiten. Denn: Ihr Spielplatz ist in Gefahr. 

Innerhalb Berlins besitzt so ein unbebautes Grundstück einen ungeheuren Wert und soll veräußert werden. Nur ein seit Jahrzehnten verschollener Bruder könnte den Verkauf verhindern. Während Rico auf dessen Suche nach Hessen fährt, agiert Oskar in Berlin. Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht Ricos. Oskars Erlebnisse verarbeitet Rico in einer eigenen Geschichte, die im Berlin um 1900 spielt – Oskars kapitale Abenteuer.

Einsamkeit und Eifersucht sind auch bei den erwachsenen Figuren angesagt. Während Frau Dahlings Verlobter sich wegen eines vermeintlichen Kurschattens nicht meldet, wird eine ganze Gruppe von Senioren mit ihren ganz eigenen Herzgeberechen Teil der Ermittlungen der Jungen.

Andreas Steinhöfel wurde für den ersten Band Rico, Oskar und die Tieferschatten mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Rico, Oskar und das Mistverständnis ist der nun schon vierte Teil der Reihe. Neben Hörspielen und Verfilmungen erweitern Comics die erzählte Welt.  Besonders interessant für den Unterricht sind an diesem Band die Vielzahl intertextueller Bezüge zu anderen Büchern Steinhöfels und bekannten Werken der Kinderliteratur. Besonders deutlich wird die Anlehnung an Kästners Emil und die Detektive herausgearbeitet. Der kleine Erich wird samt Eltern auf dem Bahnhof auf dem Weg nach Dresden angetroffen und zeigt sich begeistert von Oskars Detektivarbeit. 

– Katharina Kraus

Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und das Mistverständnis. Carlsen Verlag 2020. ISBN 978-3551557834. 336 Seiten, 16,- €.


Knapp 30 Preise gibt es, die in Deutschland für deutschsprachige Jugendbücher vergeben werden. Der öffentlichkeitswirksamste unter ihnen ist der seit 1956 vergebene und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugendgestiftete Deutsche Jugendliteraturpreis. Dieser umfasst allerdings mehr als nur einen Preis: Während eine Kritiker*innenjury Preise in den Sparten Bilderbuch, Kinderbuch, Jugendbuch und Sachbuch vergibt, lobt eine Jugendjury, bestehend aus sechs Leseclubs, zusätzlich den „Preis der Jugendjury“ aus. Eine Sonderpreisjury verleiht schließlich eine Auszeichnung für Nachwuchsschriftsteller*innen sowie für das schriftstellerische Gesamtwerk eines*r Autor*in. Insgesamt sind die Preise mit 72.000 Euro dotiert.

Seit der Leipziger Buchmesse im Frühjahr sind die jeweils sechs nominierten Bücher in jeder Sparte bekannt. Nun wurde der Deutsche Jugendliteraturpreis 2020 auf der Frankfurter Buchmesse vergeben. In der Kategorie Bilderbuch gewinnt die Trilogie Dreieck Quadrat Kreis von Mac Barnett (Text) und Jon Klassen (Illustration), übersetzt von Thomas Bodmer. Als Kinderbuch wird Freibad. Ein ganzer Sommer unter dem Himmel von Will Gmehling prämiert. Den Preis der Sparte Sachbuch erhält A wie Antarktis. Ansichten vom anderen Ende der Welt von David Böhm (Text und Illustration), übersetzt von Lena Dorn. Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte von Dita Zipfel (Text) und Rán Flygenring (Illustration) ist das Jugendbuch des Jahres und Wer ist Edward Moon? von Sarah Crossan (Text) in Übersetzung von Cordula Setsman erhält den Preis der Jugendjury.

Den Sonderpreis als „Neues Talent“ erhält Rieke Patwardhan für ihr Kinderbuch Forschungsgruppe Erbsensuppe oder wie wir Omas großem Geheimnis auf die Spur kamen. Für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet wird Cornelia Funke.

Soweit die Hard Facts. Das sind viele neue Ideen für die herbstliche Lesegemütlichkeit und für den Deutschunterricht natürlich! Lust auf die Vorbereitung machen die vom Arbeitskreis für Jugendliteratur zusammengestellten Praxistipps, die kostenlos zum Download bereitstehen. Diese stellen für alle prämierten und fast alle nominierten Bücher Vorschläge für den Einsatz im Unterricht sowie erste methodische Erprobungen vor. Auch für die nominierten Jugendbücher Elektrische Fische von Susan Kreller und Kein Teil der Welt von Stefanie de Velasco. Den Lit4School-Eintrag zu Kein Teil der Welt legen wir Ihnen noch einmal ans Herz. Weitere Einträge folgen! Wir lesen uns erstmal weiter durch die Liste der Prämierungen. Hier entlang für weitere Infos zu den Preisträgern und den Praxistipps!

Katharina Kraus


Gemessen an seiner öffentlichen Sichtbarkeit ist der Deutsche Buchpreis ohne Zweifel der  wichtigste jährlich vergebene Preis für einen deutschsprachigen Roman. Seit 2005 wird er jedes Jahr am Vorabend der Frankfurter Buchmesse verliehen. Gestiftet wird der Preis in Höhe von 25.000 € vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, einem eingetragenen Verein, der die Interessen der Verlage, Zwischenbuchhändler und Sortimentsbuchhandlungen in Deutschland vertritt. Mit dem Preis verbindet der Börsenverein das Ziel, „über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit zu schaffen für deutschsprachige Autor*innen, das Lesen und das Leitmedium Buch“. Der Deutsche Buchpreis ist damit ein Preis mit einem klar erkennbaren Interesse: dem Interesse des Buchhandels, Bücher zu verkaufen. Und zwar literarisch hochwertige Bücher, die von einer jedes Jahr wechselnden siebenköpfigen Jury unter einer Fülle von Einreichungen in einem mehrstufigen Verfahren ausgewählt werden. In diesem Jahr haben 120 Verlage 187 Titel eingereicht, mehr als je zuvor.

Mit Anne Webers Annette, ein Heldinnenepos wurde gestern abend ein ungewöhnlicher Sieger gekürt: die in Form eines epischen Langgedichts verfasste Geschichte der französischen Widerstandskämpferin Annette Beaumanoir, die im Zweiten Weltkrieg Juden rettete und später in der algerischen FLN aktiv war, spielt mit der ehrwürdigen Gattung Versepos, die eigentlich „seit über hundert Jahren mausetot“ ist. So schreibt es Moritz Baßler, Professor für Germanistik an der Universität Münster, in seiner (ansonsten hymnischen) Rezension. Die meisten Kommentator*innen reagierten überrascht. Als Favoritin für den Preis galt eigentlich Deniz Ohdes Roman Streulicht, der am Wochenende bereits mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet wurde.

Eine Heldinnengeschichte in einer erschwerten Form, prämiert mit dem Ziel, Aufmerksamkeit für dieses Buch zu schaffen – wie geht das zusammen? Die Jury schreibt in ihrer Begründung: „Die Kraft von Anne Webers Erzählung kann sich mit der Kraft ihrer Heldin messen: Es ist atemberaubend, wie frisch hier die alte Form des Epos klingt und mit welcher Leichtigkeit Weber die Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir zu einem Roman über Mut, Widerstandskraft und den Kampf um Freiheit verdichtet. Annette, ein Heldinnenepos ist eine Geschichte voller Härten, die Weber aber mit souveräner Dezenz und feiner Ironie erzählt. Dabei geht es um nichts weniger als die deutsch-französische Geschichte als eine der Grundlagen unseres heutigen Europas. Wir sind dankbar, dass Anne Weber Annette für uns entdeckt hat und von ihr erzählt.“

Sollten Lehrkräfte sich für den Deutschen Buchpreis interessieren? Unbedingt! Die Longlist und mehr noch die Shortlist des Deutschen Buchpreises haben einen entscheidenden Einfluss darauf, was im Herbst gelesen wird, und sie bieten eine gute Orientierung über Entwicklungen aktueller Literatur. Und ist Annette, ein Heldinnenepos auch ein Buch für den Deutschunterricht? Ja! Das Thema Held*innen und die Form des Epos legen Bezüge zur mittelalterlichen Literatur nahe, die im Unterricht (oft: zu) wenig vorkommt, obwohl sie in vielfältigen Adaptionen durch die Moderne und Postmoderne geistert – von der „Nibelungentreue“ des Deutschen Reichs (der Begriff wurde 1909 von Reichskanzler von Bülow geprägt) bis zu den vielfältigen Bezügen auf die Artusepik in Fantasy-Literatur und -Serien. Annette, ein Heldinnenepos bietet die Gelegenheit, diesen Bezügen einmal nachzugehen und dabei nach Held*innen der Gegenwart zu fragen – vielleicht in einer fächerverbindenden Einheit mit dem Religions- oder Ethikunterricht? Ein Eintrag zu Anne Webers Buch für Lit4School ist auf jeden Fall schon einmal in Arbeit!

Silke Horstkotte