Nachrichten aus der Redaktion

Sommerzeit ist Lesezeit – und damit Gelegenheit, sich mit den Nominierungslisten des Preises der Leipziger Buchmesse und des Deutschen Jugendliteraturpreises zu beschäftigen. Beide wurden am 23.3. 2023 verkündet, der Preis der Buchmesse am 27.4. verliehen, während der Deutsche Jugendliteraturpreis am 20.10. im Rahmen der Frankfurter Buchmesse verliehen wird.

Für den Deutschen Jugendliteraturpreis wurden 32 Titel von 669 eingereichten Bewerbungen aus rund 7.500 Titeln nominiert, die jährlich auf dem deutschen Kinder- und Jugendliteraturmarkt erscheinen. Der Deutsche Jugendliteraturpreis kann in dieser unübersichtlichen Fülle an Angebot eine erste Orientierungshilfe bieten. Die Nominierungen der Kritikerjury sind in die Kategorien Bilderbuch, Kinderbuch, Jugendbuch und Sachbuch gegliedert, gesondert herausgestellt werden der Preis der Jugendjury und der Sonderpreis Neue Talente. Die Zusammenstellung der nominierten Titel ist in Form und Inhalt abwechslungsreich und die kurzen Inhaltsangaben der Jurys wirken teilweise sofort lesemotivierend. Vertreten sind neben Romanen spielerische Bilderbücher zum Mitmachen (Wie man bis eins zählt oder Spinne spielt Klavier), Versromane (Die Sonne, so strahlend und Schwarz) und Graphic Novels (Harte Schale, Weichtierkern).

Auch auf inhaltlicher Ebene stellt die Nominierungsliste eine Auswahl an Literatur dar, die eine Vielfalt an Identifikationsangeboten für Kinder und Jugendliche bietet: Die Titel handeln unter anderem von dem Verhältnis zwischen den Generationen (Wie anders ist alt), queerer Liebe (Queergestreift), Verlust (Birdie und ich) und Kinderarmut (Nordstadt). Viele Protagonist:innen scheinen auf der Suche nach ihrer Identität für sich und innerhalb der Gesellschaft zu sein, stellen dabei aber verschiedene Lebensbereiche in den Fokus. Die Vorsitzende der Kritikerjury, Prof. Dr. Iris Kruse fasst zusammen: „Es sind kraftvolle Titel, die mit beachtlicher Kreativität Themen verhandeln, die für ein gerechtes und gutes Zusammenleben in einer Gesellschaft wichtig sind.“ Die Nominierungsliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis kann daher auch für den Deutschunterricht interessant sein und die Bücherwahl für das kommende Schuljahr inspirieren. Lit4School wird in den nächsten Wochen und Monaten nominierte Titel in der Datenbank aufnehmen und – sofern schon vorhanden – die Praxistipps für eine Umsetzung im Unterricht des Arbeitskreis Jugendliteratur verlinken.

Perspektivreich für den Deutschunterricht – und somit lohnend für die Sommerlektüre von Lehrkräften – sind auch die Nominierungen für den Preis der Leipziger Buchmesse: Neben Dinçer Güçyeters Unser Deutschlandmärchen, dem Gewinner, wurden Ulrike Draesners Die Verwandelten Joshua Groß‘ Prana Extrem, Clemens Setz‘ Monde vor der Landung sowie Angela Steideles Aufklärung nominiert. Auch auf dieser Liste findet sich eine Fülle von Themen und Formen: Das Gewinnerbuch Unser Deutschlandmärchen zeichnet in experimentellen Formen, die Gebete, Monologe, Dialoge und Chöre verbinden die Suche einer türkisch-deutschen Familie nach Sprache und Heimat. Im Mittelpunkt steht das Anwerbeabkommen der Bundesrepublik Deutschland, dessen Folgen für die Angeworbenen vor allem aus weiblicher Sicht dargestellt werden. Unser Deutschlandmärchen könnte als Gegenstand des Deutschunterrichts vor allem für westdeutsche Bundesländer mit einem hohen Anteil Türkeistämmiger interessant sein.

Eine ganz andere, aber ebenfalls weiblich dominierte und transnationale Familiengeschichte erzählt Ulrike Draesners Die Verwandelten. In der Begründung der Jury heißt es: „Die Verwandelten sind Frauen, die im Zuge von Krieg und Ideologie ihre Rolle oder gar ihre Identität wechseln mussten. Ulrike Draesner folgt den weiblichen Linien einer verzweigten Familie, um über Macht und deren Wirkung zu erzählen. Die zeitlich und regional unterschiedlich gefärbte Sprache des Romans, die auch Humor kennt, führt drängend zu Fragen der Gegenwart.“

Sächsichen Lehrkräften möchten wir besonders Angela Steideles Aufklärung ans Herz legen: Dieser Roman über das Leipzig des 18. Jahrhunderts wird erzählt von Dorothea Bach, der ältesten Tochter Johann Sebastian Bachs. Auch hier dominiert also ein weiblicher Blick und stiftet ungewöhnliche Einsichten in die Kultur der Aufklärung, in Musik, Dichtung und Wissenschaft des 18. Jahrhunderts. Durch den „fremden“ Blick Dorothea Bachs erweisen sich viele der behandelten Themen als überraschend aktuell.

— Silke Horstkotte und Charlotte Nagels



Da mählich gründet der Boden sich, Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimatlich,
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief atmet er auf, zum Moor zurück Noch immer wirft er den scheuen Blick: Ja, im Geröhre war’s fürchterlich,

O schaurig war’s in der Heide!
(Annette von Droste Hülshoff: Der Knabe im Moor, 1842)

Annette von Droste Hülshoff (voller Name: Anna Elisabeth Franziska Adolphina Wilhelmine Ludovica Freiin von Droste zu Hülshoff) starb heute vor 175 Jahren: am 24. Mai im Jahre 1848. Als ihr Vermächtnis hinterließ sie uns nicht nur Musikstücke, sondern auch Balladen, Lyrik und ihre berühmte Novelle die Judenbuche. Wenngleich zu Lebzeiten recht unbekannt, kannte doch jede Person, die vor 2001 geboren wurde, ihr Gesicht: Sie war auf dem 20-DM-Schein gedruckt.

In Westfalen bei Münster geboren und aufgewachsen, wird gerade ihre Naturlyrik stark von den Eindrücken ihrer Heimat geprägt. Dort findet man insbesondere Beschreibungen von Wiesen, Heiden und Moorlandschaften. Diese werden nicht nur idyllisch, sondern mitunter auch gespenstisch beschrieben, wie der Auszug aus Der Knabe im Moor zeigt. Durch diese Motive wird sie häufig auch als Dichterin des Münsterlandes bezeichnet. Relevant für den schulischen Kontext ist Droste-Hülshoff vor allem deshalb, weil sie als eine von nur wenigen Frauen im bestehenden Kanon etabliert ist. Heute gilt sie als eine der bekanntesten und berühmtesten deutschen Dichterinnen.

— Susanna Frank


Raumschiffe, Lichtschwerter, Wesen von einem anderem Stern – das Star-Wars-Universum zählt zu den bekanntesten Franchises der Welt. Schon seit dem Jahre 1977 begeistert George Lucas‘ „Krieg der Sterne“ Millionen von Fans und wurde zum bis dahin erfolgreichsten Film der Filmgeschichte. Im Mittelpunkt steht der junge Luke Skywalker, der von seinem Meister Obi-Wan Kenobi zu einem Jedi-Ritter ausgebildet wird, um gegen das totalitäre System des Imperiums und dessen Anführer, den Diktator Darth Vader zu kämpfen und so die Galaxis zu befreien.

Aus den Filmen wurden Bücher, die von mehreren Autor*innen verfasst wurden. Im Jahr 1999 kam Episode I –  Die dunkle Bedrohung von Terry Brooks auf den Markt und wurde seither stark rezipiert. Die Reihe ist dem Genre Science Fiction zuzuordnen. Science Fiction ist zusammen mit Fantasy und Horror ein Teil des Metagenres Fantastik. Dabei geht es um fiktive Zukunftsszenarien oder alternative Vergangenheiten, oft in dystopischem Kontext. In diesen Universen spielen wissenschaftliche Erkenntnisse und futuristische Technologien eine große Rolle. Häufig genutzte Elemente sind Zeitreisen, außerirdische Lebensformen und neuartige Medikamente, Fortbewegungsmittel  oder Waffen. So ist auch in Star Wars das Reisen bei Lichtgeschwindigkeit in technisch hochkomplizierten Raumschiffen von Planet zu Planet ein wichtiges Element, die Laser-Blaster immer im Rucksack dabei. Andere berühmte Science-Fiction-Romane sind unter anderem Schöne neue Welt von Aldous Huxley, 1984 von George Orwell und Fahrenheit 451 von Ray Bradbury.

Die Faszination, die in dem Erschaffen einer Sci-Fi-Welt liegt, gründet zum einem darin, dass das Fortschreiten der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung unserer Zeit Lesenden das Gefühl gibt, es sei zumindest im Bereich des Möglichen, dass sich unsere Welt einmal in diese Richtung entwickelt. Wenn sich künstliche Intelligenz und Roboter im selben rasanten Tempo weiterentwickeln wie bisher, was spricht dagegen, dass künftig jeder Haushalt einen Androiden besitzt, der im Alltag hilft, wie bei Star Wars? Aber die zukünftigen Welten wecken auch Angst: Was spräche dagegen, dass diese Androiden irgendwann zu einer Waffe werden, die in Kriegen eingesetzt wird? Häufig werden reale Ängste und Problematiken verarbeitet. So auch die Angst, dass uns unsere Technologien irgendwann überholen. Oftmals werden auch koloniale Vergangenheiten und Invasionen, totalitäre Systeme, Umweltkatastrophen und Ressourcenknappheit aufgegriffen und kritisiert. Auch in Star Wars werden solche Verbindungen hergestellt. So ist der Kampf zwischen den Rebellentruppen und der Schreckensherrschaft des Imperiums beispielsweise an die Vietnamkriege und das nationalsozialistische Regime angelehnt und bietet so einen Raum, um auf die politischen Geschehnisse der Vergangenheit und Gegenwart zu reagieren.

So lässt dieses Genre zwar genug Platz für Fantasie und Fiktion, spielt aber auch mit realen Ängsten und Konflikten in unserer heutigen Gesellschaft. Damit sind Bücher dieser Art insbesondere für Schulklassen geeignet, da hier auf spannende und faszinierende Art über aktuelle Themen gesprochen werden kann.

— Susanna Frank


Am 13. Dezember 1797 wurde Heinrich Heine geboren. Das 225. Jubiläum dieses Tages kann als Anlass dienen, sich mit dem facettenreichen Leben des Autors und dessen literarischen Werken zu beschäftigen und mögliche Herangehensweisen für den Literaturunterricht zu beleuchten. 

Heinrich Heine gilt weitläufig als letzter Dichter und gleichzeitig als Überwinder der Romantik; neben seinen Romanzen und Gedichten verfasste er jedoch auch Reiseberichte und betätigte sich als politischer Journalist. Nicht ohne Grund ist er also fest im Deutschunterricht verankert. Im sächsischen Lehrplan wird die Behandlung von Heinrich Heine und seinen Titeln Deutschland, ein Sommermärchen, Harzreise und Buch der Lieder im Wahlbereich 3 für die Deutsch-Leistungskurse vorgeschlagen. Eine Betrachtung der Werke könnten hinsichtlich politischer,  historischer, philosophischer und künstlerischer Anschauungen und Einflüsse erfolgen (vgl. Lehrplan, S. 61). Eine weitere Facette, unter der einige Werke des Autors betrachtet werden können, ist der Einfluss von Religion. Der Schwerpunkt des folgenden Beitrags soll daher auf Heines Beziehung zum Judentum liegen. Denn obwohl die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus eine wichtige Rolle im Unterricht spielt, wird das Werk Heines seltener vor dem Hintergrund seiner Zugehörigkeit zur diskriminierten jüdischen Gemeinschaft behandelt. 

Heine wuchs unter dem Vornamen Harry als Sohn einer jüdischen Familie in Düsseldorf auf. Die französische Besatzung seines Heimatortes unter Napoleon konnte für eine gewisse Emanzipation der Juden sorgen, bis Düsseldorf 1815 preußisch wurde und sich die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölkerung wieder veränderten. 1819 ermöglichte sein Onkel ihm ein Jurastudium, welches Heine aus pragmatischen Gründen der finanziellen Sicherheit antrat. Er studierte in Bonn, Göttingen und Berlin, beschäftigte sich in diesen Jahren aber dennoch viel mit Literatur sowie Geschichte und schrieb erste eigene literarische Werke. 

Während seines Berlin-Aufenthalts bekam er nicht nur Kontakt zu literarischen Kreisen, sondern wurde darüber hinaus auch Mitglied im Verein für Wissenschaft und Cultur des Judentums, welcher sich mit der Geschichte des Judentums beschäftigte. Nachdem Heine 1825 sein Studium beendet und seinen Doktortitel erhalten hatte, ließ er sich auf den Namen Heinrich taufen – in der Hoffnung auf gesellschaftliche Anerkennung und weil er erwartete, als Protestant eine staatliche Stelle antreten zu können. Die angestrebte Assimilation blieb bei ihm jedoch wie auch bei anderen Konvertiten seiner Zeit aus. Heine zog 1831 nach Paris und arbeitete dort als Journalist für die Augsburger Allgemeine Zeitung. 

1835 wurde die gesamte Produktion seines deutschen Verlegers unterbunden und Heine blieb in seinem Pariser Exil, das er lediglich 1843/44 für eine Reise nach Deutschland verließ. Ab 1845 ging es ihm gesundheitlich immer schlechter und seine letzte Schaffensphase in der so genannten „Matratzengruft“ begann. Hier entstand seine letzte Gedichtsammlung Romanzero. Der dritte Teil dieser Sammlung, die Hebräischen Melodien, beinhaltet spezifisch jüdische Thematiken; das längste der drei Gedichte, Jehuda ben Halevy, schildert etwa die Biografie eines spanisch-jüdischen Dichters des Mittelalters. 

Auch in anderen Werken setzte sich Heine literarisch mit dem Judentum und dessen gesellschaftlicher Stellung auseinander: In Die Bäder von Lucca, einem Teil der Reisebilder, treten drei jüdische Figuren auf, die konvertiert sind und deren Assimilation genau wie die des Autors Heine scheitert. Sein Romanfragment Der Rabbi von Bacherach, dessen erstes Kapitel bereits während Heines Mitgliedschaft im Verein für Wissenschaft und Cultur des Judentums in Arbeit war, erzählt in drei Kapiteln zunächst die Geschichte einer jüdischen Gemeinde, die durch Ritualmordvorwürfe bedroht wird, und anschließend von jüdischen Figuren, bei deren Beschreibung Heine sich in satirischer Weise auch antisemitischer Klischees bedient. 

Heine machte durch sein Schreiben auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam und kritisierte politische Vorgänge. Darüber hinaus beschäftigte er sich in einigen seiner Werke mit der Diskriminierung des Judentums und der Problematik der scheiternden Assimilation und der ausbleibenden rechtlichen Emanzipation. Gerade die Aspekte der Diskriminierung und Assimilation sind auch heute noch aktuell und bieten die Möglichkeit, mit den Werken Heines an die Lebenswelt der Schüler*innen anzuknüpfen und mit ihnen Diskussionen über Ausgrenzung und Integration zu führen. 

— Charlotte Nagels


Wenn ich tot bin,
möchte ich immerhin
so eine Laterne sein,
und die müßte vor deiner Türe sein
und den fahlen
Abend überstrahlen.

(Wolfgang Borchert: „Laternentraum“, 1946)

Am 20. November 1947 starb Wolfgang Borchert im Alter von nur 26 Jahren. Anlässlich seines 75. Todestages am vergangenen Sonntag möchten wir an den Schriftsteller erinnern und einige seiner Texte für den Deutschunterricht empfehlen.

Wolfgang Borchert ist einer der wichtigsten Vertreter der Nachkriegsliteratur. Er wuchs in Hamburg auf und konnte sich schon früh für die Literatur begeistern. Bereits im Jugendalter schrieb Borchert eigene Gedichte und träumte davon, selbst einmal als Künstler auf der Bühne zu stehen. Dennoch fing er nach der abgebrochenen Schulausbildung zunächst eine Lehre als Buchhändler an. Zeitgleich nahm er heimlich Schauspielunterricht und konnte einige Monate als Schauspieler arbeiten, bevor er 1941 zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Schon früh übte Borchert Kritik am Nationalsozialismus und sinnloser Kriegsgewalt. Regimekritische Briefe brachten ihn während seiner Zeit als Soldat wiederholt ins Gefängnis. Auch litt er unter Mangelernährung und diversen Krankheitszuständen.

Nach vier Jahren an der Ostfront kehrte der junge Borchert schließlich zurück nach Hamburg und begann, in seinen Texten die traumatischen Erfahrungen und das Lebensgefühl einer „verlorenen Generation“ zu verarbeiten. Wie viele junge Menschen seiner Zeit fühlte auch Borchert sich seiner Jugend beraubt. In einem Manifest proklamierte er: „Unsere Moral ist die Wahrheit. Und die Wahrheit ist neu und hart wie der Tod. Doch auch so milde, so überraschend und so gerecht. Beide sind nackt.“ („Das ist unser Manifest“, 1947). Doch Borcherts Gesundheitszustand verschlechterte sich und im September 1947 musste er schließlich mit schweren Leberschäden eingeliefert werden. Wenige Wochen später verstarb Borchert – nur einen Tag vor der Uraufführung seines Dramas Draußen vor der Tür, das kurz zuvor Erfolge als Hörspiel feierte. Die meisten seiner Werke, darunter vor allem Gedichte und Erzählsammlungen, wurden erst posthum zum Erfolg. Das ist auch seiner Mutter Hertha zu verdanken, die Borcherts Nachlass verwaltete und ein Archiv gründete.

Wolfgang Borchert hatte großen Einfluss auf die deutschsprachige Literaturlandschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Er gilt als Neubegründer der deutschen Kurzgeschichte und wird oft als Symbolfigur der Friedensbewegung geführt. In seiner sehr kurzen Schaffenszeit brachte Borchert ein bedeutsames Gesamtwerk hervor. Auch im schulischen Literaturkanon ist Wolfgang Borchert fest etabliert; seine Texte tauchen konstant in Empfehlungslisten, Lehrbüchern und Unterrichtsmaterialien auf. Und das hat gute Gründe:  Borcherts Texte weisen eine gedankliche Dichte sowie eine Nähe zum Expressionismus auf, sind jedoch gleichzeitig exemplarisch für die Literatur einer zertrümmerten Welt und ermöglichen das Mitfühlen mit Schicksalen dieser Zeit.

In unserer Datenbank befinden sich derzeit zwei Titel des Autors, die sich für die Behandlung im Deutschunterricht anbieten:

  • Draußen vor der Tür als ein zentrales Werk der Trümmerliteratur: Nach mehrjähriger Kriegsgefangenschaft kehrt der ehemalige Unteroffizier Beckmann zurück nach Deutschland. Er ist traumatisiert von den Erlebnissen als Soldat, aber kommt in eine Welt, die die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs verdrängen will. Einen Ort in der Zivilgesellschaft kann Beckmann nicht finden.
  • An diesem Dienstag: Borcherts zweiter Erzählband besteht aus neunzehn Kurzgeschichten, die im November 1947 veröffentlicht wurden. Neben der titelgebenden Kurzgeschichte enthält der Band u.a. auch die Erzählungen „Die Küchenuhr“, „Nachts schlafen die Ratten doch“ und „Die drei dunklen Könige“.

– Nils Rosenkranz


Frauen sind im (Schul-)Kanon unterrepräsentiert. Dies zeigt sich unter anderem bei einer Analyse der Liste mit Lektüreempfehlungen, die dem sächsischen Lehrplan für das Fach Deutsch an Gymnasien beiliegt. Von den angegebenen Titeln stammt nur etwa ein Viertel von Autorinnen, wobei dieses Missverhältnis bei älteren Werken besonders deutlich zutage tritt. Vor allem im Literaturunterricht der höheren Klassen, in denen verstärkt Werke vergangener Epochen behandelt werden, könnte bei Schüler*innen so der Eindruck entstehen, dass Frauen lange Zeit keine erwähnenswerte Literatur geschaffen hätten. Dass dies jedoch nicht der Fall ist und sich eine Beschäftigung mit Literatur von Frauen im Literaturunterricht durchaus lohnen kann, möchte ich in diesem Blogeintrag zeigen. 

Frauen waren bis ins 20. Jahrhundert kulturell, sozial und ökonomisch benachteiligt. Die strukturelle Benachteiligung zeigt sich auch darin, dass ihnen der Zugang zum Literaturbetrieb erschwert wurde. Dies fing bereits bei der Erziehung an: Das primäre Ziel war es, Frauen zur Arbeit im Haushalt zu qualifizieren; Bildungsinhalte im engeren Sinne spielten nur eine randständige Rolle. – Dies waren Disziplinen, die außerhalb des häuslichen Umfelds stattfinden. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass Hausfrauen auch zu Hause wenige Möglichkeiten hatten zu schreiben. Die Ursachen dafür beschreibt etwa Virginia Woolf in ihrem Essay A Room of One’s One: Autor*innen benötigten für ihr Schaffen sowohl eine finanzielle Grundsicherheit als auch einen Raum, in dem sie ungestört arbeiten können. Doch sowohl an finanzieller Unabhängigkeit als auch an Privatsphäre mangelte es vielen Frauen lange.

Trotz dieser erschwerten Zugangsvoraussetzungen veröffentlichten Frauen aber bereits im 17. Jahrhundert dichterische Werke unter ihrem eigenen Namen. Teilweise ließen sie sich vorher von Privatlehrern bilden oder sie bedienten Gattungen wie etwa das Gelegenheitsgedicht, in denen es weniger um formale Virtuosität als um den frommen Inhalt ging. Während im Barock die Lyrik im Vordergrund gestanden hatte, wagten sich Frauen im 18. und 19. Jahrhundert auch an andere Gattungen heran. Nicht selten veröffentlichten sie ihre Werke dabei aber anonym oder nutzten Pseudonyme. Geschah die Veröffentlichung unter dem Klarnamen, so finden sich in den Vorworten teilweise sogenannte Bescheidenheitstopoi, in denen die literarische Qualität der Werke etwa dadurch herabgewürdigt wird, dass sie als bloße Erlebnisberichte bezeichnet werden. Daneben stehen bisweilen auch Worte der männlichen Befürwortung und Rechtfertigung der Veröffentlichung.

Auch wenn nun gezeigt wurde, dass in den vergangenen Jahrhunderten durchaus Autorinnen gewirkt haben, stellt sich noch immer die Frage, weshalb sie im Literaturunterricht Beachtung finden sollten. Welchen Zugewinn bringt es dem Literaturunterricht, wenn auch Werke von Autorinnen gelesen werden? Meiner Meinung nach geht die Antwort auf diese Frage über den Hinweis hinaus, dass eine Repräsentation von Autor*innen beider Geschlechter aus Gründen der Gleichberechtigung sinnvoll wäre. 

Das Ziel des Literaturunterrichts, die „Teilhabe am Handlungsfeld Literatur“ (Leubner/Saupe/Richter, De Gruyter 2016), entsteht durch ein Wechselspiel zwischen „Lesefreude“, „Textverstehen“ und „Wissen über Literatur und ihre Kontexte“ (ebd.). Diese drei Teilbereiche können durch den Einbezug von Autorinnen gestärkt werden. Die Beschäftigung mit den Hürden weiblichen Schreibens, die eng mit gesellschaftlichen Normen verbunden waren, erweitert das Epochenwissen um Facetten, die bei der Behandlung von Werken männliche Autoren nicht zur Sprache kommen. Diese neue Perspektive auf die jeweilige Epoche kann damit einhergehen, Teilziele des Textverstehen – zum Beispiel das Erkennen von Textelementen – durch die oben erwähnten Besonderheiten des weiblichen Schreibens zu erweitern. Darüber hinaus gehe ich davon aus, dass die weibliche Perspektive von Autorinnen eine ebenso starke emotionale Beteiligung und Vorstellungsbildung hervorrufen kann, wie die von einem Mann formulierte. Dass auch das ästhetische Vergnügen nicht darunter leiden muss, wenn ebenfalls Literatur von Autorinnen vergangener Jahrhunderte gelesen würden, zeigt die Tatsache, dass einige Autorinnen von ihrem zeitgenössischen Publikum besser angenommen wurden als ihre männlichen Kollegen (z.B. Victorie Gottsched und Gabriele Reuters). 

Der Literaturunterricht sollte also aus ästhetischen wie auch aus fachdidaktischen Gründen durch die Literatur von Frauen ergänzt werden – zum einen, um auch die Werke von weiblichen Autorinnen sichtbar zu machen, und zum anderen, weil eine Beschäftigung mit dieser Literatur neue Perspektiven auf die jeweiligen Epochen und damit vor allem eine Erweiterung des Wissens über Literatur und ihre Kontexte ermöglicht.

Eine erste Umsetzung ist nicht von einer Änderung des Lehrplans abhängig. Es finden sich bereits jetzt Anknüpfpunkte an den Sächsischen Lehrplan für das Fach Deutsch an Gymnasien. In Klasse 8 bietet sich eine konkrete Thematisierung der Benachteiligung von Frauen in der Literatur an, um Teil des fächerübergreifend angelegten Themas „Sexuelle Bildung“ zu sein, die vorsieht, unter anderem Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zu thematisieren. In Klasse 9 und 10 sollen die Schüler*innen Kompetenzen der Textanalyse und Interpretation erlangen; die Textwahl steht den Lehrkräften hier frei, solange am Text die vorgegebenen Motive und Themen erkennbar sind. In Klasse 11 und 12 ist die Lektüre verbindlich, aber auch hier könnte man mit den Schüler*innen den vorgegebenen Kanon besprechen und gemeinsam darüber diskutieren. Eine solche Diskussion regt nicht nur dazu an, das Wissen über Literatur und ihre Kontexte anzuwenden, sondern kann auch eines der allgemeinen Bildungs- und Erziehungsziele des Gymnasiums – die Reflexions- und Diskursionsfähigkeit – fördern. 

Das Team von Lit4School bemüht sich, verstärkt Literatur von Autorinnen aus vergangenen Jahrhunderten in der Datenbank zu integrieren. Eine Übersicht der Titel findet man gesammelt unter der Filterkombination Identitäten: Weibliche Stimmen und Veröffentlichungsjahr: vor 1945. Auch das dazugehörige Thema kann gefiltert werden, sodass eine Anpassung von noch unbekannterer Literatur an die Ziele des Lehrplans mit möglichst wenig Aufwand verbunden ist.

– Charlotte Nagels


Vor 110 Jahren starb am 14. Mai 1912 der schwedische Schriftsteller und Künstler August Strindberg. Strindberg verfasste neben Romanen, Gedichten und Novellen vor allem Dramen, durch die er auch international bekannt wurde. Er wurde am 22. Januar 1849 als Sohn einer Familie des Mittelstandes in Stockholm geboren. Sein Vater war Dampfschiffkomissionär, seine Mutter starb an Tuberkulose, als Strindberg 13 Jahre alt war. Seine Kindheit und Jugend waren geprägt von vielen Wohnortswechseln und er wurde in dieser Zeit eher als verschlossen und schüchtern beschrieben. Auch wenn Musik und Theater in seiner Familie thematisiert wurden, wurde sein künstlerisches Interesse erst später geweckt.
1867 begann Strindberg das Studium der „Ästhetik und lebenden Sprachen“ in Uppsala und war nebenher als Grundschul- und Hauslehrer tätig. Zwei Jahre später versuchte er sich als Schauspieler, nahm jedoch sein Studium 1870 wieder auf. Kurz darauf brach er es aus finanziellen Gründen wieder ab und kehrte nach Stockholm zurück, wo er zunächst als Journalist und Redakteur, später dann als Sekretär in der königlichen Bibliothek arbeitete. Er lernte die Schauspielerin Siri von Essen kennen und sie heirateten 1877. In dieser Zeit schaffte Strindberg auch seinen literarischen Durchbruch mit dem satirischen Gesellschaftsroman Das rote Zimmer (1879) und der Aufführung seines Dramas Meister Olof. Er erfuhr für weitere gesellschaftskritische Werke scharfe Kritik und verließ daraufhin 1883 mit seiner Familie Stockholm und lebte in Frankreich, in der Schweiz und in Dänemark. Im Jahr darauf musste Strindberg für eine Gerichtsverhandlung nach Stockholm zurückkehren, da er durch die Veröffentlichung seiner Novellensammlung Heiraten (1884) wegen Gotteslästerung angeklagt wurde. Siri von Essen und August Strindberg ließen sich 1891 scheiden und das darauffolgende Jahr verbrachte er in Berlin, wo er zu einem Freundeskreis von skandinavischen und deutschen Schriftstellern und Malern gehörte. Von 1893 bis 1897 war Strindberg mit der Journalistin Maria Friederike Uhl verheiratet und lebte in Österreich, bis er 1897 wieder nach Schweden zurückkehrte. Mit dem Ende der Ehe erlitt er psychische Krisen, auch die sogenannte Inferno-Krise. Es folgte von 1898 bis 1907 eine sehr produktive Zeit. So entstanden in dieser Zeit beispielsweise die Trilogie Nach Damaskus I-III (1898-1904) sowie weitere Dramen, die nachhaltigen Einfluss auf die Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts in Europa hatten. In dieser Zeit (1901-1904) war er auch ein drittes Mal verheiratet, mit der Schauspielerin Harriet Bosse. Nach der Scheidung blieb Strindberg in Stockholm, wo er mit 63 Jahren verstarb und auf dem Nordfriedhof begraben liegt.
August Strindberg gehört zu einem der produktivsten Autoren Schwedens; sein Gesamtwerk umfasst mehr als zehn Romane, zehn Novellensammlungen und 60 Dramen. Seine Werke sind nicht nur einer Ideenströmung zuzuordnen. So erlebte er in seinen frühen Jahren als Schriftsteller eine naturalistische Phase, während er sich infolge seiner psychischen Krise in den 1890er Jahren eher dem Expressionismus zuwandte. Seine Schriften sind von sozial- und gesellschaftskritischen Themen geprägt, was ihm nicht nur Lob einbrachte. Sein Verhältnis zur Religion und zur Kirche ist ähnlich ambivalent wie zu der gesellschaftlichen Rolle der Frau und den Frauen in seinem Leben. Er interessierte sich nicht nur für andere Kunstformen, wie der Fotografie und der Malerei, sondern widmete sich auch immer wieder der Wissenschaft. August Strindbergs Werke beeinflussten nicht nur die Literaturszene Schwedens, er inspirierte auch nach seinem Tod weitere Autor*innen und Künstler*innen und galt in Deutschland zwischen 1912 und 1925 als einer der meistgespielten Dramatiker. Lit4School stellt das Trauerspiel Fräulein Julie von August Strindberg vor. Es entstand im Sommer 1888, als Strindberg mit seiner Familie in Kopenhagen lebte.


—Daphne Rose


Am 9. Februar 2022 wurde bekannt gegeben, dass auch 2022— im dritten Jahr in Folge— keine Leipziger Buchmesse stattfindet. Noch wenige Tage und Wochen zuvor schienen die Zeichen positiv zu stehen, denn die sächsische Corona-Schutzverordnung hätte die Großveranstaltung mit Besuchern und einer 2G-Plus-Regelung zugelassen.

Allerdings hatten zwischenzeitlich zahlreiche Verlage und Aussteller ihre Teilnahme abgesagt. Als Grund wurden Personalmangel für den Messeauftritt und die Befürchtung zahlreicher Ausfälle nach Infektionen genannt. 

Durch die Terminierung im Frühjahr eines jeden Jahres gilt die Leipziger Buchmesse als erster großer Branchentreff und erlaubt dem Publikum das Entdecken von Neuerscheinungen im breiten Rahmen. Denn die Leipziger Buchmesse ist nach der Frankfurter Buchmesse — die zweitgrößte Deutschlands, anders als diese jedoch hauptsächlich eine Publikumsmesse. 

Einige Lichtblicke bleiben für alle Buchliebhaber*innen bestehen. Auf auf dem Gelände des Werk 2 am Connewitzer Kreuz findet die Pop-Up-Buchmesse mit Ausstellungen und Lesungen statt. Über 60 Verlage präsentieren hier an Ständen und in Lesungen ihre Neuerscheinungen. Tickets sind auf zwei Stunden begrenzt und online erhältlich.

Auch der Preis der Leipziger Buchmesse wird trotz der Absage vergeben. Am heutigen Donnerstag, den 17. März 2022 um 16 Uhr, findet die Verleihung in der Glashalle auf dem Leipziger Messegelände statt und kann über die Website im Livestream verfolgt werden. Die siebenköpfige Jury, bestehend aus Literaturkritiker*innen und -wissenschaftler*innen, nominierte unter dem Vorsitz von Insa Wilke insgesamt 15 Autor*innen in den drei Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung. Der hochkarätige Preis, der die Vielfalt von Gegenwartsliteratur abbilden möchte, ist mit 60.000 Euro dotiert und zieht breites Interesse auf sich. Die Spannung steigt also nicht nur bei den Autor*innen, wer die diesjährigen Preisträger*innen sein werden. 

Und: Leipzig liest trotzdem. Dezentral findet das alljährliche Lese-Festival mit Autor*innen-Lesungen und Gesprächen an unterschiedlichen Orten statt. Literatur hat eine Bühne und den Zugang zum Publikum.

 Zuletzt bleibt die Hoffnung auf die Buchmesse vom 2023. Bis dahin: weiterlesen.

— Anne Seeger


Wie kann man den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im Unterricht behandeln? Schon bald nach dem Angriff veröffentlichte das Landesinstitut für Lehrbildung und Schulentwicklung Hamburg ein Padlet mit Informationen und Unterrichtsressourcen. Auch die Seite Ukraineverstehen des Zentrums liberale Moderne verlinkt eine Fülle an Ressourcen. Die Materialsammlung „Was bedeutet Krieg?“ bietet Impulse zu einer allgemeineren Behandlung des Themas Krieg, besonders für jüngere Kinder.

Wir, die Redaktion Deutsch von Lit4School, meinen: auch für den Literaturunterricht lohnt es sich, auf den Krieg in der Ukraine einzugehen, denn viele ukrainische Texte sind ins Deutsche übersetzt, außerdem leben und schreiben in Deutschland eine Reihe von aus der Ukraine stammenden Autor*innen. Dazu stellen wir in diesem Blog-Post eine Reihe von Ressourcen vor. Für unseren Ukraine-Schwerpunkt haben wir bereits Einträge zu folgenden Texten und Autor*innen erstellt, weitere sollen in den nächsten Tagen folgen:

Oleksandr Irwanez: Pralinen vom roten Stern

Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol

Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein

Serhij Zhadan: Internat

Auf der Seite Lyrikline finden sich zahlreiche Gedichte ukrainischer oder aus der Ukraine stammender Lyriker*innen, u.a. von Juri Andruchowytsch, Serhij Zhadan, Miriam Dragina, Olena Herasymyuk und Yevgeniy Breyger.

Neben anspruchsvollen Romanen und Gedichten gibt es auch zahlreiche ukrainische Texte, die bereits für die Sekundarstufe I empfehlenswert sind:

Oksana, es reicht von Maria Kuznetsova erzählt von einer jungen ukrainisch-jüdischen Immigrantin in den USA und den Schwierigkeiten, in einem neuen Land Fuß zu fassen.

In Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen von Natalka Sniadanko machen sich zwei junge Protagonistinnen von Lviv/Lemberg auf den Weg nach Athen, bleiben aber in Berlin hängen.

Die Kurzgeschichtensammlung Skype Mama erzählt von Familien, deren Mütter im Ausland arbeiten und nur online mit ihren Kindern kommunizieren können.

Eine Überblicksdarstellung der ukrainischen Gegenwartsliteratur hat die Slawistin Sylvia Sasse für das geschichtswissenschaftliche Blog Geschichte der Gegenwart verfasst.

Die Literaturdatenbank Vivavostok, eine Kooperation der Internationalen Jugendbibliothek und der Robert Bosch Stiftung, stellt aktuelle Kinder- und Jugendliteratur aus Mittel- und Osteuropa vor.

Der Verein Translit setzt sich für den kulturellen Austausch zwischen dem deutschsprachigen Raum und dem Osten Europas ein. In einem Projekt des Vereins aus dem Jahr 2015 wurden Ausschnitte ukrainischer Kinder- und Jugendliteratur ins Deutsche übersetzt und die Autor*innen dazu vorgestellt.

Der Trabanten-Verlag kuratiert das Instagram-Projekt #ANTIKRIEGSLYRIK. Über den Kanal kann man Gedichte zur aktuellen Thematik einreichen, die dann dort veröffentlicht werden.


Sie sprechen mehr als eine Sprache? Dann gehören Sie damit zur großen Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen! 

Laut einer Spracherhebung des Leibniz-Instituts und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung gaben im Jahr 2018 ein Fünftel der Befragten an, mehr als eine Sprache in ihrem Haushalt zu sprechen. Über ein Drittel aller Schüler*innen sprechen bei der Einschulung neben dem Deutschen noch mindestens eine weitere Sprache, wie das Mercator Institut für Sprachförderung in einem Faktencheck feststellt. Spätestens mit dem Fremdsprachenunterricht in der Schule werden alle Kinder und Jugendlichen mehrsprachig. Diese individuelle Mehrsprachigkeit bedeutet nach heutigem Konsens nicht, dass beide (oder mehrere) Sprachen auf muttersprachlichem Niveau beherrscht werden müssen. Vielmehr definiert sie sich durch die „Fähigkeit […], in mehreren Sprachkontexten zu kommunizieren – und dies unabhängig davon, auf welche Weise die beteiligten Sprachen erworben oder wie gut sie beherrscht werden“.

Sprachliche Vielfalt ist gesellschaftliche Realität und gerade in Schulen und Kitas für viele Kinder alltägliche Normalität. Eine Grundannahme dabei ist, dass für eine effektive Sprachförderung eine sprachenfreundliche Atmosphäre und Wertschätzung von Mehrsprachigkeit die Basis sind – dabei sollte nicht nur auf die (prestigeträchtigen) Schulfremdsprachen eingegangen werden, sondern auch auf die Sprachen die die Schüler*innen aus ihren Familien oder migrationsbedingt mitbringen. Sprachen bieten Zugang zu Wissen und Kultur. Mehrsprachigkeit kann sich zudem positiv auf die kognitive und sprachliche Entwicklung auswirken. Studien zeigen zum Beispiel, dass Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, leichter weitere Sprachen lernen und sich besser in andere hineinversetzen können.

Wie kann in Schule und KiTa eine entsprechende Wertschätzung von Mehrsprachigkeit sichtbar gemacht werden?

Anstatt eines „Deutschgebots“ auf Schulhof oder im Unterricht kann zum Beispiel eine freie Sprachwahl bei Gruppen- oder Partnerarbeit angeboten werden – natürlich nur, wenn alle Beteiligten die Sprache beherrschen und einverstanden sind. Das Schulhaus kann mehrsprachig beschildert werden, Begrüßungen können in den verschiedenen Sprachen der Schüler*innen gelernt werden. Schüler*innen können sogenannte Sprachportraits anfertigen, wobei sie in die Umrisse eines Körpers alle Sprachen mit Farben malen und vorstellen, weshalb welche Sprache an welcher Stelle des Körpers verortet wurde. Sprachvergleiche können im Unterricht angestellt werden. Den Ideen sind keine Grenzen gesetzt und sie sollen zu einem unterstützenden Umgang führen.

Wir, als Team von Lit4School, möchten Bücher vorstellen, die mehrsprachig sind oder Mehrsprachigkeit einbeziehen und sichtbar machen. Diese Bücher können in einer Leseecke zur freien Verfügung stehen, vorgelesen werden – auch unter Einbezug von Eltern – und gemeinsam besprochen werden. 

Hier eine Auswahl unserer Bücher, die sich mit Mehrsprachigkeit beschäftigen:

Mehrsprachige Bilderbücher:

Romane über Mehrsprachigkeit: 

— Anne Seeger


Wenn Sie an deutschsprachige Lyrikerinnen denken, wer fällt Ihnen ein? Wie viele Autorinnen konnten Sie nennen? Und: ist von Droste-Hülshoff eine von Ihnen? 

Annette von Droste-Hülshoff wurde 1797 auf dem Wasserschloss Hülshoff nahe Münster als zweites von vier Kindern in eine angesehene, westfälische Adelsfamilie geboren. Über Generationen war diese maßgeblich an der politisch-geistlichen Führung des Landes beteiligt gewesen. Zum Ende des 18. Jahrhundert bröckelte die Macht der Fürstentümer in Folge der französischen Revolution jedoch auch in Deutschland. Zu von Droste-Hülshoffs Lebzeiten war die Autorin deutlich weniger bekannt als sie es heute ist, obwohl ihre literarische und musikalische Begabung früh erkannt und gefördert wurde. Ihre erste halb-anonyme Veröffentlichung des Gedichtbandes 1838 war ein Misserfolg mit nur 74 verkauften Exemplaren- den Zeitgenos*innen erschien die schreibende adelige Frau als unschicklich. Doch von Droste-Hülshoff schrieb weiter. Ihr literarisches Werk gewann erst im „Kulturkampf“ der 1870er Jahre (20 Jahre nach ihrem Tod) an Bedeutung, in welchem sie – mit den Attributen „katholische“ und „westfälisch“ versehenen – zur Gallionsfigur stilisiert wurde. So erklärte man sie zur „größten deutschen Dichterin“, was ihr wissenschaftliches Interesse und einen prominenten Platz in der Literaturgeschichte, aber auch Fehldeutungen ihres Werkes einbrachte.

Die vielfältige Literatur von Droste-Hülshoffs verbindet Romantik, Realismus und Biedermeier. Ihre eigene Ambivalenz ihrer weiblich-ständischen und ihrer dichterischen Rolle gegenüber prägt fast all ihre Arbeiten und trägt sehr zu ihrer Wirkung bei. Heute ist Annette von Droste-Hülshoff als eine der wenigen Frauen fest im Literaturkanon etabliert. Anna Bers schreibt hierzu im Nachwort ihrer Anthologie Frauen I Lyrik: „Kanones, die meist nach verborgenen, aber machtvollen Normen gebildet werden, kann man am besten durch empirische Untersuchungen beschreiben […] Ein wertvolles und umfangreiches Datenprojekt hat Hans Braam verfolgt: Bei einer Auswertung von über 75.000 Texten findet sich an 63. Stelle der am häufigsten anthologisierten Texte Annette von Droste-Hülshoffs „Knabe im Moor“– als erstes Gedicht einer Autorin. Davor finden sich 23 Gedichte von Goethe.“

Lit4School stellt das Gedicht „Am Turme“ von Droste-Hülshoff vor. Dieses ist im Winter 1841/1842 auf der Meersburg am Bodensee entstanden und reflektiert in vier Strophen die gesellschaftliche Stellung der Frau, beschäftigt sich mit dem Gedankenexperiment „ein Jäger auf freier Flur zu sein“ und kann daher als emanzipatorischer Text gelten. Als Projekt, das durch seine Auswahl von Texten für Schulen ebenfalls zur Kanonisierung beiträgt, versuchen wir scheibenden Frauen* eine Plattform zu geben, damit sie gleichberechtigt gelesen werden. Das zeigt sich mitunter am angegebenen Kontext „Weibliche Stimme“, unter welchem Sie Texte von Frauen finden. 

Annette von Droste-Hülshoff hat erreicht, was auch heute noch längst nicht die Normalität ist – als schreibende Frau im literarischen Kanon etabliert zu sein. Von Droste-Hülshoffs Biografie zeugt von einem schriftstellerischen Selbstbewusstsein, das sie trotz hegemonialer Macht auf dem Feld der Literatur nicht davon abhielt zu schreiben. Uns bleibt, unsere Kanones zu hinterfragen und sie um die vielfältigen, interessanten Texte zu erweitern, die bereits von Frauen* geschrieben wurden und werden.

— Anne Seeger

Buchempfehlung: Anna Bers: Frauen | Lyrik. Reclam 2020.


„Die Gefahr einer einzigen Geschichte“ oder „The danger of a single story“ – der so betitelte Vortrag der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie ist mit fast 9,5 Millionen Aufrufen auf youtube (Stand November 2021) eines der am meisten gesehenen Videos einer TEDx-Konferenz.

Von welcher Geschichte erzählt die Autorin? Adichie schrieb schon als Kind Geschichten. Geschichten, in denen zunächst ausschließlich weiße Menschen des globalen Nordens vorkamen und das, obwohl sie selbst nie außerhalb Nigerias gewesen war. Denn die Protagonist*innen ihrer Geschichten ähnelten den Figuren, die sie selbst aus ihren Kinder- und Jugendbüchern kannte.

Als Adichie zum ersten Mal ein Buch des nigerianischen Schriftstellers Chinua Achebe liest, macht sie eine bestärkende, augenöffnende Entdeckung: Figuren, die ihr Leben widerspiegeln, die ihr ähnlich sind und sie repräsentieren. Adichie weist anhand weiterer Beispiele daraufhin, wie iel Macht Geschichten haben und welche Gefahr damit einhergeht, wenn nur eine Perspektive beziehungsweise eine Erzählung über eine Region oder Gruppe an Menschen gelesen oder gehört wird: die – der Realität innewohnende – Komplexität wird zugunsten von Stereotypen und Vorurteilen aberkannt.

Wie können wir dieser „einzigen Geschichte“ entkommen und unseren Blick weiten? Wir brauchen neue Geschichten und diverse Erzählungen. Und aus diesem Grund sollten Gruppen, die weniger gesellschaftliche Macht haben, zum Beispiel Migrant*innen, Schwarze Menschen oder Personen mit Behinderung, die Möglichkeit bekommen, ihre Geschichten zu teilen. Und wo, wenn nicht im Kindergarten oder in der Schule wäre ein geeigneter Ort, an dem wir lernen, zuzuhören und zu erzählen, diese verschiedenen Geschichten zu lesen und zu schreiben?

Seit der Tötung George Floyds im Mai 2020 und den sich anschließenden Protesten zum Thema „Black Lives Matter“ bekomme das Thema Rassismus und Anti-Diskriminierung in der Bildung endlich auch in Deutschland mehr Aufmerksamkeit, so die Literaturwissenschaftlerin Élodie Malanda und die Pädagogin und Kulturmittlerin Sarah Berg.  In ihrem Vortrag „Wie es beginnt- Racial Diversity im Kinder- und Jugendbuch“, der am 21. Oktober im Haus des Buches in Leipzig stattfand, stellten sie Bücher vor, die eine positive, selbstermächtigenden Wirkung erzielen können. Sie schlugen Literatur vor, die dazu beitragen soll, dass alle Kinder sich in Figuren mit selbstbewusst handelnden und fordernden Akteur*innen wiedererkennen.

Wie wählt man nun als Pädagog*in Bücher aus?  Hier liefert die „Fachstelle Kinderwelten für vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung“ Prüffragen, um Kinderbücher besser einschätzen zu können. Die Fragen können anregen den aktuellen Kanon zu überdenken und bewusste Neuanschaffungen zu tätigen:

  1. Welche Kinder finden sich mit ihrer Familienkultur – ihren Sprachen, Festen, Alltagsabläufen, Wohnformen, Interessen, Äußerlichkeiten wieder? Welche nicht?
  2. Welche Personen haben (k)eine aktive Rolle?
  3. Wer wird als „normal“ dargestellt? Wer muss seinen Wert beweisen?
  4. Liegen der Charakterisierung einzelner Menschen Vorurteile über bestimmte Gruppen zugrunde?
  5. Auf wessen Kosten funktionieren die Witze oder die „Moral von der Geschichte“?

Lit4School versucht die Suche nach den neuen, diversen Geschichten zu vereinfachen. Wie unser Blogbeitrag aus dem Juli 2021 dargelegt, ist es Lit4School ein Anliegen Gegenstände für den Literaturunterricht vorzuschlagen, die bisher keine oder nur wenig Berücksichtigung gefunden haben. Das zeigt sich unter anderem in unserem Auswahlkriterium „Diversität“.

Denn Bücher haben eine große Bedeutung:  Kinder machen sich durch das Betrachten und Lesen ein Bild von sich, von anderen Menschen und der Welt. Wie erstrebenswert scheint es da, wenn die uns umgebende reale Vielfalt auch in Kinder- und Jugendbüchern sichtbar(er) wird.

— Anne Seeger


Gesund durch Schule?

Deutsch · 26 Juli 2021

“Schule gefährdet die Gesundheit.” – So lautet ein witzig gemeinter Ausspruch, den man manchmal auf Tassen oder Schlüsselanhängern lesen kann. Wirft man einen Blick auf die Statistiken psychischer Beschwerden von Schüler:innen und Lehrkräften der letzten Jahre, scheint sich dieser Eindruck zu bestätigen. Damit sich daran etwas ändert, muss psychische Gesundheit an Schulen stärker thematisiert werden. Aber hat dieses Thema im Unterricht überhaupt einen Platz? 

Die WHO definiert psychische Gesundheit als einen Zustand „des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann“. Dieser Zustand wird nicht allein von individuellen Merkmalen beeinflusst. Auch soziale Verhältnisse und die Umgebung eines Menschen wirken sich auf seine psychische Gesundheit aus. Schule kann als Ort der Interaktion und des Lernens also wesentlichen Einfluss auf die psychische Gesundheit nehmen. Demensprechend positioniert sich die Konferenz der Kultusminister:innen (KMK) in ihrem Beschluss vom 15. November 2012: Gesundheitsförderung und Prävention seien Aufgabe der Schule und zentraler Bestandteil von Schulentwicklung.

Gesundheit soll also offiziell zum Thema an Schulen werden, in die sächsischen Lehrplänen ist sie bereits aufgenommen worden. Gesundheitserziehung gilt in der Grundschule als Bildungs- und Erziehungsziel. Schüler:innen „erkennen ihre Verantwortung für die eigenen Gesundheit […] und nehmen diese Verantwortung innerhalb und außerhalb der Schule wahr.“ (SSK 2019: VII) So sollen beispielsweise die gesundheitlichen Auswirkungen vom eigenen medialen Nutzungsverhalten eingeschätzt werden (vgl. SSK 2019: 27). In den Curricula weiterführender Schulen muss man eher am Anfang der Lehrpläne suchen. Der thematische Bereich Gesundheit soll hier neben Bereichen wie Medien oder Umwelt durch fächerverbindenden Unterricht vermittelt werden. Wie Gesundheit in den jeweiligen Fachunterricht – in unserem Fall Deutsch – eingebunden werden kann, bleibt allerdings offen, und das, obwohl Dringlichkeit geboten ist: 20 Prozent der 13- bis 18-Jährigen haben psychische Gesundheitsprobleme. Die Förderung psychosozialer Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen durch Schule könnte aber ihre Widerstandskraft gegen negative Einflüsse, die sogenannte Resilienz, erhöhen. Damit könnte psychischen Erkrankungen vorgebeugt werden. 

Doch wie kann Unterricht im Allgemeinen und Deutschunterricht im Besonderen einen Beitrag zur psychischen Gesundheit leisten? Zunächst spielen übergeordnete Faktoren eine Rolle, wie ein vertrauensvolles Unterrichtsklima, eine gute Beziehung zwischen Lehrkräften und Schüler:innen, transparente, als gerecht empfundene Notengebung und ein guter Klassenzusammenhalt. All das kann zu einem Zugehörigkeitsgefühl beitragen, das sich positiv auf die psychische Gesundheit auswirkt. Es können kleine Übungen als Rituale eingebaut werden, die den Fokus auf die Körper- und Atemwahrnehmung legen. In der Interaktion mit der einzelnen Person gilt es als Lehrkraft, die Gefühle des Gegenübers wahrzunehmen und zu tolerieren. Ein „Über die Note musst du doch nicht traurig sein“ kann den emotionalen Zustand des betroffenen Kindes in den seltensten Fällen ändern, die Emotionen sind nun einmal da. Diese und weitere Ideen liefert das Buch Wache Schule. Mit Achtsamkeit zu Ruhe und Präsenz. Für den Deutschunterricht bietet sich zudem die Möglichkeit, gezielt Bücher auszuwählen, in denen es um Achtsamkeit und um den Umgang mit Gefühlen geht. 

happy schult Sinneswahrnehmungen und kann deshalb auch gut im Sachunterricht aufgegriffen werden. 

Die Gebrauchsanweisung gegen Traurigkeit zeigt auf, dass man Traurigkeit am besten einfach hinnimmt und so weiter macht wie sonst auch – bis sie irgendwann von allein weggeht. 

Ich und meine Angst erklärt mit einer liebevollen Geschichte, dass alle Kinder Ängste haben und es hilft, über sie zu sprechen und sie als Begleiter zu akzeptieren. 

Um das Thema psychische Gesundheit authentisch zu vermitteln, steht die eigene psychische Gesundheit an erster Stelle. Die Potsdamer Lehrerstudie 2006 hat mit 30% eine erschreckend hohe Burnout-Rate bei Lehrkräften festgestellt, deren Größenordnung spätere Studien bestätigt haben. Für gesunde Kinder braucht es eine gesunde Lehrkraft. 

Wenn Sie als Lehrkraft etwas für Ihre psychische Gesundheit tun möchten, bietet das Zentrum für Arbeit und Gesundheit Sachsen Coachings und Beratungen für Lehrkräfte zu individuellen Belastungssymptomatiken an, die der Schweigepflicht unterliegen.

— Maren Petrich


  1. Eine Sternstunde 

1927 veröffentlichte Stefan Zweig erstmals eine Sammlung historischer Miniaturen unter dem Titel Sternstunden der Menschheit. In diesen Sternstunden gilt es, das Schicksal beim Schopfe zu packen. Stefan Zweig kennzeichnet sie wie folgt: „Solche dramatisch geballten, solche schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist, sind selten im Leben eines Einzelnen und selten im Laufe der Geschichte.“

Würde die historische Zeit der Analysen Stefan Zweigs nicht nach dem Ersten Weltkrieg enden, der 20. Juli 1944 wäre aufgenommen worden – als Datum einer Sternstunde der Menschheit, eines Möglichkeitsmoments menschheitlicher Tragweite. Am 20. Juli 1944 versuchten Offiziere der Wehrmacht, Hitler während einer militärischen Lagebesprechung durch eine Bombe zu beseitigen. Das Attentat misslang. Hitler überlebte; die am Attentat Beteiligten wurden entweder wenig später vom Nazi-Regime ermordet oder begingen Suizid; das Regime war nicht gestürzt; der Krieg wurde noch fast ein Jahr fortgesetzt. Und dennoch blitzte in der Explosion der Bombe, die Hitler töten sollte, das Licht eines Widerstandes auf, der in gesellschaftlichen Sphären zu Hause war, in denen man ihn nicht erwartet: innerhalb einer – vielfach adligen – militärischen Führungsriege. Die Unterstützer*innen unterhielten Kontakt zum sogenannten Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke. Einige Namen mögen stellvertretend für die 200 Todesopfer stehen, die aus den Reihen der Attentäter*innnen und ihrer Helfer*innen zu beklagen sind: Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Friedrich Olbricht, Henning von Tresckow, Ludwig Beck.

2. Von Fragen und Zweifeln

Wenn wir Heutige am 20. Juli der Widerstandskämpfer*innen gedenken, schwingt in jenem Gedenken immer wieder auch ein fragendes Zweifeln mit. Vielleicht fragen wir: Warum kam es erst 1944 zum Anschlag? Durch welche Verbrechen mussten sich die unmittelbaren Attentäter auszeichnen, damit sie in die Position kamen, an einer Lagebesprechung mit Hitler teilnehmen zu können? Was sollte an die Stelle des Nationalsozialismus treten? – Zahlreiche Arbeiten widmen sich solchen Fragen. Wir können zum Einstieg in die Thematik die Materialien der Stiftung 20. Juli sowie der Bundeszentrale für politische Bildung empfehlen. Eine neue Biografie des Attentäters Stauffenberg von Thomas Karlauf ist 2019 erschienen.

3. Auseinandersetzung im Unterricht

Wie könnten Auseinandersetzungen mit den historischen Ereignissen, die am 20. Juli 1944 kulminierten, im Deutschunterricht aussehen? Eine Möglichkeit wäre, den Weg rückwärts zu gehen, ausgehend vom grundgesetzlich garantierten Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 4) hin zum Widerstand der Kämpfer*innen des 20. Juli. Wogegen ist Widerstand gefordert? Wofür setz(t)en sich die Widerständigen ein? An welchen Stellen ist auch heute Widerstand nötig? Die Diskussionen könnten frei oder auch literarisch gebunden stattfinden, der Schulkanon böte beispielsweise: Kleists Michael Kohlhaas oder Antigone (sowohl die des Sophokles als auch die des Anouilh). Johannes Herwigs Jugendroman Bis die Sterne zittern setzt sich mit den Leipziger Meuten auseinander, jugendlichen Widerstandsgruppen. Der Roman bietet vielfältige Anknüpfungspunkte zur Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern und eignet sich für eine Diskussion über Möglichkeiten des Widerstands in der Klassenstufen 9.

Eine andere Möglichkeit könnte den Ausgangspunkt einer Befassung mit dem 20. Juli 1944 in den unterschiedlichen Rezeptionsweisen nehmen: Zeitgenossenschaft, Nachkriegszeit in West wie Ost, wiedervereinigtes Deutschland. So exemplifiziert Walter Kempowski in einem Artikel in der ZEIT vom 8. Juli 2004 facettenreich die Aufnahme des gescheiterten Attentats in der deutschen Bevölkerung von 1944, indem er Einblick in Briefe, Tagebücher und Erinnerungen gewährt. Und die schon erwähnte Stiftung 20. Juli hält ein reiches Archiv an Reden zum Gedenktag bereit, die einer eingehenden Lektüre harren und manches preisgeben können, über Erinnerungsarbeit und Geschichtspolitik vor allem in der Bundesrepublik.

* Liest man den anklingenden Monolog Hamlets nicht in der Schlegel-Übersetzung, stellt sich der Bezug zum hier Verhandelten ohne weiteres her. – Vielleicht auch ein Gedankenanstoß, Überliefertes nicht fraglos hinzunehmen. 

— Frieder Stange


Wie entscheiden wir eigentlich, welche Texte und Medien auf Lit4School veröffentlicht werden? Was macht einen Text geeigneter als andere? Nach welchen Kriterien gehen wir vor?

In seinem Band zu Ganzschriften im Deutschunterricht schreibt Tilman von Brand: „Jede Textauswahl für den Deutschunterricht folgt didaktischen und pragmatischen Erwägungen, ist gegebenenfalls aber auch an curriculare Vorgaben oder an die Bedeutung des Werks im Rahmen des (ungeschriebenen) Kanons gebunden“ (Klett Kallmeyer 2020). Im Wesentlichen gelten die hier beschriebenen Prozesse auch für die Textauswahl unserer Datenbank.

Lit4School sucht aber vor allem auch nach Gegenständen für den Literaturunterricht, die vielleicht bisher keine oder nur wenig Berücksichtigung gefunden haben. Unser Grundanliegen besteht darin, den literarischen Kanon für die Schule zu revidieren und zu erweitern, indem wir uns mit dieser Kanonisierung kritisch auseinandersetzen. Dabei möchten wir verschiedene Sichtweisen aus den Fachbereichen der Germanistik ebenso einbringen wie übergreifende gesellschaftliche Entwicklungen, die auch Schüler:innen in ihrer Lebenswirklichkeit beschäftigen.

Als Grundlage für unsere Literaturauswahl dienen zunächst die Bildungsstandards der KMK für das Fach Deutsch sowie die sächsischen Fachlehrpläne für die unterschiedlichen Schulformen, so dass Lehrkräfte die literarischen Einträge auch entsprechend verorten können. Hier sehen wir es für unser Projekt als Chance, dass die curricularen Vorgaben insgesamt doch eher vage formuliert sind und nur selten konkret zu unterrichtende Texte nennen.

In einem weiteren Schritt sichten wir verschiedene Empfehlungs- und Nominierungs-/Preisträgerlisten (z.B. zum Deutschen Jugendliteraturpreis), beschäftigen uns mit gesellschaftlichen Themen und Kontexten und bringen dabei stets auch persönliche Leseerfahrungen ein.

Kommt ein Text infrage, wird dessen Eignung anhand von fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Kriterien geprüft, die in unsere Auswahl eingehen und eine Orientierung darstellen. An dieser Stelle folgt ein Überblick über relevante Aspekte, wobei zu betonen ist, dass ein Text für Lit4School dann als geeignet angesehen wird, wenn dieser mindestens zwei Auswahlkriterien erfüllt:

Aktuelle DebattenBeschäftigt sich der Text mit gegenwärtigen Diskursen unserer Gesellschaft bzw. lassen sich bei älteren Texten Bezüge zu solchen herstellen? Werden Debatten wie z.B. #blacklivesmatter, #frauenlesen oder #fridaysforfuture aufgegriffen?
Ausgezeichnet oder nominiert für einen LiteraturpreisWurde der Text zumindest einmal oder gar mehrfach für einen Literaturpreis nominiert bzw. ausgezeichnet (z.B. den Deutschen Jugendliteraturpreis oder den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis)?
Bezug zur LebenswirklichkeitNimmt der Text Bezug zu Fragestellungen, die für Schüler:innen von Bedeutung sind? Werden kinder- und jugendspezifische Themen angesprochen? Können sich Schüler:innen gut in die dargestellte Situation hineinversetzen?
Demokratie- und politisch bildendEignet sich der Text zur Förderung von demokratischem Denken und Handeln? Werden politische Probleme angesprochen? Wird emotionales Miterleben (z.B. durch Perspektivwechsel) ermöglicht?
DiversitätZeichnet sich der Text durch die Darstellung gesellschaftlicher Pluralität und Vielfalt aus? Bekommen marginalisierte Gruppen und Minderheiten eine Stimme (z.B. Menschen mit Migrationshintergrund, People of Colour, Menschen mit verschiedenen sexuellen Identitäten)?
Förderung der LesemotivationKann der Text in besonderem Maße dazu beitragen, Lesefreude und Lesemotivation zu fördern? Handelt es sich um einen Text, der einfach Spaß macht, der sich durch einen hohen Unterhaltungswert auszeichnet?
Geeignet für den fächerübergreifenden UnterrichtBietet der Text Möglichkeiten zum fächerübergreifenden Lernen? Können Bezüge zu anderen Schulfächern hergestellt werden?
InnovationsgehaltBeschäftigt sich der Text mit Themen oder Kontexten, die für seine Entstehungszeit eher untypisch sind? Ist der Text hinsichtlich seiner Themen (z.B. Aufbrechen von Tabuisierungen) oder auf der Darstellungsebene (z.B. besondere Erzählstrukturen) innovativ für seine Zeit?
InterkulturalitätErmöglicht der Text interkulturelles Lernen? Regt der Text zu Empathie und Fremdverstehen an? Oder handelt es sich um einen mehrsprachigen Text?
MedienverbundLiegt der Text in weiteren Medienformen vor, so dass mediales und ganzheitliches Lernen ermöglicht werden können? Gibt es Adaptionen, die den Unterricht bereichern können – etwa ein Hörbuch-/spiel, eine Verfilmung, eine Comic-Version?
Typisch für die EpocheSteht der Text exemplarisch für seine Entstehungszeit? Kann eine gewisse Repräsentanz bezüglich einer literarischen Epoche oder Strömung festgestellt werden? Lassen sich typische Themen, Motive oder Gestaltungsmittel nachweisen, um Schüler:innen literaturgeschichtliche Zusammenhänge zu veranschaulichen?
Neue Perspektiven auf die EpocheEröffnet der Text trotz einer literaturgeschichtlichen Repräsentanz neue Sichtweisen auf seine Entstehungszeit? Wird der Text sonst eher seltener behandelt, wenn es um eine bestimmte Epoche oder Strömung geht?
WeltliteraturHandelt es sich um einen Text, der über nationale Grenzen hinaus Bekanntheitsgrad hat – sprich Literatur, die weltweit gelesen wird?

Unsere Kriterien können und sollen natürlich auch Lehrkräften dienen, wenn es darum geht, eigene Texte und Medien für den Unterricht auszuwählen. Wie erwähnt wird es dabei nur im seltensten Fall möglich sein, einen Gegenstand zu finden, der alle Kriterien erfüllt oder bei dem gar alle der aufgeführten Fragen positiv beantwortet werden können. In der nächsten Zeit möchten wir einige der genannten Kriterien näher vorstellen und die dahinterstehenden Konzepte näher erläutern, um ein besseres Verständnis für unsere Prozesse der Textauswahl zu ermöglichen.

Fernab davon freuen wir uns auch über Vorschläge von unseren Nutzer:innen. Sind Sie Lehrkraft, Elternteil oder Schüler:in? Ist Ihnen in letzter Zeit ein literarischer Text begegnet, den Sie gerne für die Schule empfehlen würden? In der oberen rechten Ecke unserer Seite können Sie einen „Eintrag vorschlagen“. Wir freuen uns über neue Beiträge!

— Nils Rosenkranz


Literatur ist Medium der Verständigung zwischen Menschen. Der Literaturwissenschaftler Gottfried Willems charakterisierte in diesem Sinn die zentrale Aufgabe der Literatur als „wertende Verständigung über Werte“. Lit4School sammelt Literatur, die insofern wertend ist, als sie ausspricht oder zu erkennen hilft, dass keine Wertunterschiede zwischen Menschen bestehen, auch wenn diese noch so verschieden sind. Aus Anlass des Christopher Street Days (CSD) stehen literarische Beispiele im Fokus, die sich der Vielfalt sexueller Identitäten und Rollen zuwenden, literarische Beispiele, die Probleme zum Thema machen, die Menschen erwachsen, die einer vermeintlich natürlichen Norm zuwiderhandeln. 

Der Christopher Street Day ist den Stonewall-Aufständen in den 1960er Jahren entwachsen, als sich LGBT-Personen gegen die Polizeiwillkür in den USA zur Wehr setzten. Seitdem finden jedes Jahr weltweite Aktionen zwischen Juni und August statt, um für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung queerer Menschen zu demonstrieren. Für jede*n, der*die Interesse hat, mehr darüber zu lesen, seien zwei Angebote empfohlen: Zum einen die biedere Darstellung dessen, was der Fall ist: Sie liefert die Bundeszentrale für politische Bildung. Zum anderen eine der vielen Aktionsseiten, hier die des CSD Leipzig, die Auskunft über Projekte, Demos und Forderungen gibt.

Lit4School möchte an dieser Stelle Texte empfehlen, in denen Probleme verhandelt werden, auf die der Christopher Street Day aufmerksam macht. Es werden einige Beispiele aus der Lit4School-Datenbank versammelt, die Schüler*innen helfen können, sowohl eigene Identitäten auszubilden als auch über sexuelle Diversität zu sprechen.

Auf unserer Liste befinden sich u.a. zwei Rapsongs (Meine MamasQueere Tiere), Beispiele aus der Kinder- und Jugendliteratur (Alles Familie!Die Mitte der Welt), ein mittelhochdeutscher Text (Ein Adam, der ein Even hât ) und eine Autobiographie (Ich bin Linus).

Für die Vorschule/ Grundschule:

Riccardo Simonetti: Raffi und sein pinkes Tutu. Community Editions 2019.

Alexandra Maxeiner/Anke Kuhl: Alles Familie! Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von Papas früherer Frau und anderen Verwandten. Klett Kinderbuch 2010.

Jessica Love: Julian ist eine Meerjungfrau. Knesebeck 2018.

Für weiterführende Schulen:

Linus Giese: Ich bin Linus. Rowohlt Polaris 2020.

Sukini: Meine Mamas. 2018.

Sookee: Queere Tiere. 2017.

Kristina Aamand: Wenn Worte meine Waffe wären. Dressler 2018.

Becky Albertalli: Nur drei Worte. Carlsen 2015.

Andreas Steinhöfel: Die Mitte der Welt. Carlsen 1998.

Ein Adam, der ein Even hât. 1230.

— Frieder Stange


 Am 22. Juni 2021 erhielt Judith Schalansky den Gutenbergpreis der Stadt Leipzig. Mit dem Preis ehrt die Stadt Leipzig besondere Verdienste um das Medium Buch, insbesondere um die Förderung der Buchkunst. Judith Schalansky ist Schriftstellerin, Herausgeberin und Typographin. Ihre Bücher bilden nicht nur eine Sammlung von Textseiten, sondern eigene, kleine Kunstwerke, die gelesen, befühlt und aus unterschiedlichen Blickwinkeln immer wieder neu betrachtet sein wollen. – Einen vorzüglichen Eindruck ermöglichen: Der Hals der Giraffe (2012) oder Verzeichnis einiger Verluste (2018).

Das Buch hat eine lange Geschichte. Waren zunächst Papyrus oder Pergament die Materialien aus denen Buchseiten bestanden, wird ab dem 14. Jahrhundert auch in Deutschland das teure Pergament durch Papier als Beschreibstoff ersetzt; seit dem 15. Jahrhundert werden die Texte in Büchern mit beweglichen Lettern gedruckt und nicht mehr von Hand geschrieben; seit dem 19. Jahrhundert setzten sich Offsetdruckverfahren durch und erfahren heute zunehmend Konkurrenz durch digitale Drucktechniken. Immer häufiger findet überhaupt kein Buchdruck mehr statt, es entsteht überhaupt kein physisches Druckerzeugnis mehr: aus dem Buch wird ein E-Book, der Screen ist das neue Papier. 

Vielleicht erleben wir heute etwas, dass auch den Menschen des 15. Jahrhunderts (wenn auch nur wenigen, nämlich denen, die lesen konnten, bewusst), widerfuhr? Damals löste die gedruckte Schrift die Handschrift ab; heute verdrängt das digitale Buch das analoge, papierene Buch. Manch eine*r hält dennoch fest am Buch, hält es wert, schätzt die Haptik, den Geruch, die Eselsohren, Kaffeeflecken, das Rascheln beim Umblättern der Seiten.

Das Team von Lit4School hat sich gefragt, wie seine einzelnen Mitglieder zum Buch stehen: Lesen sie noch im gedruckten Buch aus Papier? Oder hat das Wischen auf einem E-Book-Reader das Umschlagen von Seiten abgelöst? Sind Literaturliebhaber*innen immer auch Bibliophile, also Buchliebhaber*innen?

Frieder Stange: Ich bin Buchleser, nahezu ausschließlich. Ich erlebe es immer wieder, dass es für mich leichter ist, Gelesenes abzuspeichern und zugleich präsent zu halten, wenn ich in einem Buch und nicht nur am Bildschirm gelesen habe. Wenn ich darüber nachdenke, warum das so ist, finde ich natürlich keine eindeutige Antwort. Sicher spielt die Gewöhnung eine Rolle. Allerdings habe ich den Eindruck, dass es mir hilft, mich an Gelesenes zu erinnern, wenn ich es ‚räumlich‘ verorten kann: dieses war relativ am Anfang, da war der Stapel gelesener Seiten noch klein, jenes war am Ende, aber auf einer linken Seite, relativ weit oben, ich musste gerade blättern, bevor ich es lesen konnte. So oder so ähnlich könnte ein Informationspuzzle zu einer bestimmten Textstelle zusammengesetzt sein.

Prof. Dr. Silke Horstkotte: Ein persönliches Bekenntnis: ich habe eine große Schwäche für schöne gedruckte Bücher! In meiner Schulzeit habe ich in der Buchbinder-AG selber Bücher gebunden. Wenn ich heute ein Buch mit Fadenheftung in Händen halte, bekomme ich schwache Knie. Besonders liebe ich die Bände der Anderen Bibliothek (auch wenn die inzwischen nicht mehr von Hand gesetzt werden) und die schön gestalteten Bücher aus dem Berenberg- und aus dem Guggolz-Verlag. 

Dr. Karolin Freund: Wenn ich vor meinem Bücherregal stehe und ein Buch herausgreife, kann ich mich oft nur noch an Bruchstücke des Inhalts erinnern. Aber ich weiß noch genau, was mich bewegt hat, an welchem Ort ich es gelesen habe, wer es mir geschenkt hat. Bücher sind somit viel mehr als Staubfänger, die Platz wegnehmen: sie sind mit Lebensabschnitten fest verbundene Erinnerungsstücke.

Nils Rosenkranz: Gedruckte Bücher haben für mich einen ganz besonderen Charme. Es ist doch einfach etwas Schönes, ein Buch anzufassen, den eigenartigen Geruch wahrzunehmen, sich von Seite zu Seite zu blättern. Auch mich erinnern Bücher an konkrete Lebenssituationen, wenn ich sie im Regal sehe. Man kann es dann in die Hand nehmen und erneut eintauchen, sich erinnern. Manchmal fällt dabei auch etwas Sand oder ein als Lesezeichen umfunktioniertes Reiseticket zwischen den Seiten heraus. Mit digitalen Büchern konnte ich bislang noch nicht ganz so viel anfangen, auch wenn ich deren Vorzüge sehe.

Joachim Kern: E-Books spielen für mich nur als preisgünstige Alternative in der Fachliteratur eine Rolle. Belletristik funktioniert für mich nur in der klassischen Buchform. Ich möchte den Fortschritt in meiner Lektüre unmittelbar sehen, schnell auf eine zurückliegende Passage zurückblättern können. Ähnlich wie Frieder fällt mir die Erinnerung an gedruckte Seiten leichter und genau wie Nils liebe ich es, kleine Souvenirs oder Widmungen in Büchern wiederzuentdecken.

Katharina Kraus: Bücher sind treue Begleiter. Das Haus zu verlassen ohne ein Buch, ist selten eine gute Entscheidung. Zum Lesen und zu Eigenmachen braucht es einen Bleistift. Aber schöne Ausgaben, muss ich vorsichtig lesen, denn Buchrücken, denen man das Gelesen-Worden-Sein ansieht, eingerissene Schutzumschläge oder gewelltes Papier sind schmerzhaft anzusehen.  


Mascha Kaléko wird am 7. Juni 1907 im heutigen Polen, damals Österreich-Ungarn, als Kind jüdischer Eltern geboren. 1975 stirbt sie in der Schweiz. Für ihr Leben sind, wie für viele Jüdinnen und Juden dieser Zeit, Flucht, Exil, Tod und Verlust, Heimat und Heimatlosigkeit prägende Wirklichkeit. Vieles davon findet sich verarbeitet in ihren Gedichten, manches direkt, anderes nur angedeutet.

In knapper, einfacher Form etwas sagen, das ist ihre Sache. Die Gedichtsammlung, mit der sie 1933 für literarisches Aufsehen sorgt, heißt nicht von ungefähr Das lyrische Stenogrammheft. – Ein ungewöhnlicher Titel. Einer, der fehl am Platz wirkt. Gehen wir ihm wörtlich nach, landen wir bei ‚Stenographie‘. Das Wort setzt es sich aus den griechischen Ausdrücken für ‚eng‘ und ‚ritzen/schreiben‘ zusammen. Anfänglich befremdet, können wir uns nun sagen: Wie passend für die Dichtkunst! Wie natürlich der Transfer aus dem Büro auf das Cover eines Gedichtbändchens!

Es verwundert nicht, wenn Mascha Kalékos Gedichte dieser Schaffensperiode der Neuen Sachlichkeit zugeordnet werden, einer, wenn nicht gar der prägendsten Kunstrichtung der Weimarer Republik. Sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur vollzieht sich eine Hinwendung zur nüchternen Darstellung dessen, was (sichtbar) ist. Beobachtung der sie umgebenden Wirklichkeit ist die Grundvoraussetzung auch für Mascha Kalékos Gedichte, Mitteilung der Beobachtungen ihr Ziel. Mascha Kaléko selbst schreibt in einem Gedicht mit dem Titel Kein Neutöner gewissermaßen das poetische Programm dazu. In der letzten Strophe heißt es dort: Weiß Gott, ich bin ganz unmodern, / Ich schäme mich zuschanden: / Zwar liest man meine Verse gern, / Doch werden sie – verstanden! – Bei diesem, ganz unmodernen Verstehen könnte eine Beschäftigung mit ihren Gedichten im Deutschunterricht ansetzen. Nahezu jede*r findet in ihren Gedichten Greifbares, Situationen, die auch der eigenen Erfahrung entnommen sein könnten, Gedanken, von denen Leser*innen meinen, es seien eigene, für die bisher nur die Worte fehlten. Indem Leser*innen etwas von Mascha Kalékos Gedichten verstehen, lernen sie die Zeit zwischen den Weltkriegen, vor allem die Großstadt der Weimarer Republik und ihre Menschen mit den Augen Mascha Kalékos sehen. So eröffnet sie, gleichberechtigt neben Erich Kästner, Kurt Tucholsky und anderen, meist männlichen Autoren, neue Blickfelder auf eine Zeit und ihre Gesellschaft, die uns bis heute zu denken geben sollte.  

Auch wenn Mascha Kalékos Gedichte schon allein genug Gelegenheiten des Nachdenkens und Innehaltens bieten, wagen wir noch einen Blick über den Tellerrand, oder vielmehr: wir wagen zu hören. Dota Kehr, man könnte sie wohl am ehesten als Liedermacherin bezeichnen, nimmt sich einiger der Gedichte Mascha Kalékos an und vertont sie. Herausgekommen ist dabei ein 2020 veröffentlichtes Album mit dem schlichten Titel Mascha Kaléko. Großstadtlyrik: karg, analytisch – und dennoch lyrisch-musikalisch.

Wenn Hörer*innen Mascha Kalékos Gedichte lesen, wenn Leser*innen Dota Kehrs Lieder hören – dann findet Aneignung von Lyrik geradezu in ursprünglicher Form statt. Dota Kehr tritt den Beweis an, dass Mascha Kaléko in ihren Gedichten lebt, dass ihre Gedichte bis heute berühren, dass ihre Gedichte nicht zeitlos sind, sondern gerade heute an der Zeit sind.

–Frieder Stange