DISKURSVIELFALT
Interkulturelle und interdisziplinäre Kommunikation. Lateinamerika und die Vielfalt der Diskurse:
Erzählliteratur und Theater

Das vorliegende Projekt hat zum Ziel, den postmodernen und postkolonialen Diskurs in seinen mannigfaltigen Ausprägungen und Ausdrucksformen in der Erzählliteratur, in den Dramen und Aufführungstexten zu untersuchen. Die Textanalyse  wird sowohl in interkulturellem als auch interdisziplinärem Kontext und auf der Basis einer klar umrissenen sowie exemplarischen Auswahl von Ländern, Autoren und Werken durchgeführt.
Das Projekt strebt innerhalb dieses abgesteckten Rahmens die Darstellung, Analyse und Interpretation des Wissens und Denkens in Lateinamerika an, und zwar auch  im Dialog mit Europa und Nordamerika sowie ausgehend von einzelnen Disziplinen wie Literaturwissenschaft, Geschichtsschreibung, Philosophie und Soziologie. Die Auswahl der kulturellen Kontexte ergibt sich aus den unterschiedlichen Diskussionszusammenhängen. Lateinamerika, Nordamerika und Europa teilen beispielsweise die Diskussion über Postmoderne sowie über 'Zentrum und Peripherie'.  Die sich in den Bereichen der Narrativik und dem Theater manifestierenden Konkretisationen entstehen in einem internationalen, d.h. intertextuellen und interkulturellen Kontext (s. Anhang). Die besondere Betrachtung des interkulturellen Dialogs soll uns in die Lage versetzen, einen erweiterten Begründungszusammenhang für die Interpretation der spezifischen Funktion der Diskurse von Postmoderne/Postkolonialität in einem länder- und kontinenteübergreifenden Kontext darzustellen, und somit einen neuen Blickwinkel auf den lateinamerikanischen Bereich zu eröffnen. Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen den Kulturen sollen ersichtlich und der eigene kulturelle Standort des lateinamerikanischen Denkens bzw. seine Charakteristika sollen aufgezeigt werden.
Das Projekt bewegt sich im Kontext der aktuellen Diskussion, die unter dem Begriff des 'Postkolonialismus' als Teil der postmodernen Debatte bekanntgeworden ist. Auch die Forschungen zur "nouvelle histoire" und "Metahistory"  stehen in enger Verbindung zu dieser Debatte. Hier soll gefragt werden, ob Lateinamerika oder Teile davon einen Kontinent bilden, der sich zumindest in bestimmten Bereichen der Kultur (im weitesten Sinn des Wortes) im Stadium der Postkolonialität befindet. Gemeint ist hier ein Augenblick der Geschichte, in dem ein ausgewogener Dialog zwischen der sogenannten Dritten Welt und den Wirtschafts- und Wissenschaftsmächten stattfindet. Das Ergebnis dieser Untersuchung soll u.a. dazu beitragen, Licht in das Verhältnis zwischen 'Zentrum und Peripherie' zu bringen und zugleich die Legitimation einer solchen Klassifizierung zu hinterfragen sowie die Frage der "Macht" bzw. "der Durchsetzungskraft" der Diskurse zu klären.
Es besteht u.E. ein unberechtigtes Mißverhältnis der kulturellen Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie, was sich auch in den wirtschaftlichen und wissenschaftlichen, politischen und historischen Beziehungen widerspiegelt. Dieser Problembereich wurde unter dem Schlagwort des "hegemonialen Denkens" in der Forschung behandelt. In der Aufhebung solcher Mißverhältnisse und Asymmetrien sowie der Einführung eines multilateralen partnerschaftlichen Dialogs liegt ein erklärtes Ziel dieses Projektes.
Im Bereich der Postmoderne-Diskussion ist die Schieflage des Dialogs noch krasser. Der Grund dafür liegt jedoch nicht allein darin, daß die Beschäftigung mit der Postmoderne in Lateinamerika wenig verbreitet war und daß andererseits postmoderne lateinamerikanische Kulturmanifestationen (eindeutig z.B. im Bereich des Theaters und im Roman) in den Ländern, die sich als der Ursprung der Postmoderne verstehen, nicht immer bekannt sind. Ein weiterer Grund besteht darin, daß Lateinamerika - sieht man von dem komplizierten Fall Borges' und dessen Rezeption einmal ab - nicht der Ursprung der Postmoderne/ Postkolonialismus-Debatte ist und daß sich Lateinamerika zunächst sehr resistent gegenüber dieser Diskussion gezeigt hat. Allerdings sind zahlreiche Arbeiten und Diskussionsbeiträge von Autoren rezipiert worden, so daß daran anknüpfend eine sinnvolle, dem Gegenstand angemessene und systematische Debatte über die postmodernen und postkolonialen Manifestationen im lateinamerikanischen Diskurs eröffnet werden kann.
Das Interesse an der Postmoderne/Postkolonialität in Lateinamerika ist einerseits rein wissenschaftlich, d.h. es geht um die Beschreibung von Denken und Wissen, zugleich geht es dabei aber auch um den Versuch, die Komplexität unserer Zeit zu verstehen (um den Ort im Leben, in dem ein solches Denken und Wissen beheimatet ist). Das Ziel des Projekts liegt in einem wissenschaftlichen, allgemeinen und partikulären Erkenntnisgewinn im Bereich der lateinamerikanischen Kultur.
Aus dieser Untersuchung sind aufgrund ihrer Fragestellung und ihres kultur- und wissenschaftstheoretischen Kontextes, kulturpolitische sowie gesellschaftspolitische und wissenschaftspolitische Ergebnisse zu erwarten, die zumindest Impulse vermitteln sollten, die Begegnung mit Lateinamerika neu zu definieren und daher ein neues Verhältnis, zumindest in den hier zu behandelndn Bereichen, anzustreben.
Die Bereiche Erzählliteratur und Theater sollen unter folgenden Gesichtspunkten behandelt werden:

1. Fiktionaler Diskurs (Lüge/Imagination) als Dekonstruktion der Geschichtsschreibung (Wirklichkeit/Wahrheit)

Vor dem Hintergrund der "neuen Geschichtsschreibung" und der "Metahistory" wird das Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung und 'neuem' historischen Roman untersucht. Der Grundgedanke besteht darin, der postmodernen These einer Gleichberechtigung von unterschiedlichen Diskurstypen und deren Funktionen und Legitimationen nachzugehen (Lyotard, Derrida). Eine zweite relevante These wäre die, daß die Wirklichkeit bzw. die Geschichte ein sprachliches und damit ein "nomadisches"  (Deleuze/Guattari) oder "hybrides" (Garcia Canclini, Brunner u.a.)  Konstrukt sei. Im einzelnen geht es um die Problematisierung des Wahrheitsbegriffs, um die Thematisierung der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit, Geschichte zu erzählen, zu interpretieren und zu fixieren. Dabei stellen die Begriffe "Narrativität" bzw. "Tropologie" und Konstruktion (White) eine Basis für den Vergleich zwischen Erzählen im historiographischen und Erzählen im fiktionalen Bereich dar und ermöglichen außerdem die Einbeziehung der Alltags-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte (Le Goff/Braudel).
Die in diesem Zusammenhang relevante Problematik zwischen Geschehnis, Gedächtnis/ Wahrnehmung und Niederschrift, zwischen Oralität und Schrift, d.h. zwischen Sinnsuche und Sinnkonstitution (Derrida) soll ebenfalls beleuchtet werden.
Diese Analysen sollen letztlich klären, inwiefern die Fiktion und die Kategorie des "imaginaire" als konkurrierende Diskurse zur Geschichtsschreibung auftreten, ob der Roman beispielsweise als Dekonstruktion der Geschichtsschreibung und des traditionellen historischen Romans oder als palimpsestisches Korrektiv einer noch immer bestehenden traditionellen Geschichtschreibung fungiert. Dies gelingt dem Roman insofern er von einer reinen Ereignis- und (mythisierten) Heldengeschichte, einer politischen und Diplomatengeschichte, von einer linearen, in geschlossenen Perioden sich entwickelnden Geschichtskonzeption ohne Brüche und Unreinheiten Abstand nimmt und sich einer privaten, subjektiven, sinnlichen, ambivalenten, durch Überlagerungen gekennzeichneten Geschichtsauffassung zuwendet. Es geht also darum zu beschreiben, welches die von der traditionellen Geschichtsschreibung ausgeschlossenen Bereiche sind, die hier aufgenommen werden, und inwieweit sie zur Bildung eines neuen Geschichtsbildes beitragen. Als zusätzlicher Aspekt soll die Frage beantwortet werden, ob wir uns tatsächlich mit der "Posthistorie" am "Ende der Geschichte" befinden (Gehlen: Über die kulturelle Kristallisation, in: Studien zur Anthropologie und Soziologie. Neuwied/Berlin 1963; Ende der Geschichte, in: Einblicke. Frankfurt a.M. 1975; Niethammer: Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Reinbek 1989), oder ob wir uns nur von einer bestimmten Geschichtskonzeption verabschiedet haben (Le Goff et alii, Hrsg.: La nouvelle histoire. Paris 1988 [Dtsch.: Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft. Frankfurt/M. 1990; Küttler et alii Geschichtsdiskurs. Frankfurt 1993/1994).
Als Beispiele dienen hier u.a. Roa Bastos: Yo, el supremo oder García Márquez: El general in su laberinto oder Javier Barreiro/Alessandro M. Cassin: El presidente Scherber; Boi Voador: El Señor Presidente (Video); De Tavira/Leñero: La Noche de Hernán Cortés; Filho: Nova Velha Estória; Griffero: Historia de un galpón abandonado. Espectáculo escénico, 99 La Morgue, Cinema Utoppia u.a.);

2. Hybridität als Kulturprinzip

Die Frage des postkolonialen Denkens schließt sich an die genannte Problematik an: Sie beschäftigt sich damit, wie die eigene Geschichte und Kultur aus der Sicht der "Ränder" neudefiniert und im Zusammenhang mit hegemonialen Ideen und Diskursen re-lokalisiert werden kann. Dabei fungieren hier als Zentrum nicht nur die USA oder Europa, sondern auch die kulturellen Institutionen und der "offizielle" Kulturbetrieb der Peripherie selbst bzw. das, was sich dort als Norm etabliert hat.
Im Mittelpunkt steht das Verhältnis zwischen Peripherie und Zentrum und das Problem der Macht in Verbindung mit der Aneignung und dem "Bewohnen" von Diskursen des Zentrums in der Absicht, diese Diskurse für eigene Ideen nutzbar zu machen. Es wird untersucht, welche Elemente der internationalen Postmodere-Debatte in die "Ränder" eingehen und wie diese im lateinamerikanischen Diskurs re-kodifiziert werden. Hier stehen die Konzeptionen der 'différance' von Derrida und des Rhizoms von Deleuze/Guattari, die sich mit den lateinamerikanischen Konzepten von 'Synkretismus'/'Hybridität' decken als Hilfskonstruktionen zur Verfügung. Es handelt sich um den Entwurf einer Gegenkultur zur normativen Kultur einer Gesellschaft bzw. um die Darstellung einer fragmentarischen Pluralität, einer hochgradigen, nicht aufhebbaren Plurivalenz des Ichs (ein Phänomen, das wir ebenfalls im Theaterbereich vorfinden). Ein Beispiel dafür liefern die Figuren von Francia und Bolivar in den Werken von Roa Bastos und García Márquez oder die Kurzerzählungen von Borges, Roa Bastos und Griffero u.a.
Es geht außerdem um die Untersuchung "gegenseitiger" Rezeptionsformen, es geht um das "Wiederschreiben" des eigenen kulturellen Selbstverständnisses und der Identität.

3. Sinnstreuung als Strukturprinzip

Ausgehend von postmodernen Kategorien wie 'Simulation', 'Rhizom', 'Fragmentarisierung', 'Heterogenität', 'Vielfalt', 'Plurimedialität', 'Intertextualität', 'Dekonstruktion' und 'Différance' sollen Aspekte der textuellen und szenischen Produktion analysiert werden, die innerhalb der gegenwärtigen Tendenzen die Spezifik lateinamerikanischer Kultur ausmachen und einen gewichtigen eigenen Beitrag zur Postmoderne leisten.
Die Dekonstruktion herkömmlicher literarischer und szenisch-dramaturgischer Verfahren, herkömmlichen Erzählens und Darstellens wird ebenso beschrieben wie die Dekonstruktion der Gattungen bzw. des Gattungsbegriffs bzw. die "Sinnstreuung" (gleichzeitige Sinnstiftung und -zerstörung).
Als Beispiel können u.a. Borges' Novellen genannt werden wie etwa El jardín de senderos que se bifurcan bzw. Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. Sie stellen ein Spiel mit der traditionellen Gattung des Detektivromans dar. Dabei wird "die Suche" bzw. "die Lösung des Falles" auf die Zeichenebene verlagert: Die Suche ist hier die Suche nach einem Sinn, der aber nie fixiert wird.
Ein weiteres Beispiel findet man bei Vargas Llosa, der sich in La tía Julia y el escribidor der Gattung "Radio-Novela" bzw. der "Novela Rosa", also der populären Kultur bedient, um das vitalistische bzw. das biologistische Modell des französischen Romans des 19. Jahrhunderts als Mythologisierung darzustellen.
Ein Beispiel für das Theater wäre etwa Pavlovskys La Mueca, einem Stück, in dem das Problem der Scheinheiligkeit und der Korruption wohlsituierter bürgerlicher Klassen, das Problem des ästhetisch-revolutionären Fanatismus - links oder rechts -, das Problem der Liebe, der Sexualität, der Grausamkeit, des Sadomasochismus und der Folter behandelt wird. Um die Sinnfixierung zu verhindern, verwischt Pavlovsky hier die Grenzen zwischen Täter und Opfer, so daß die Opfer eine emotionelle Beziehung zu ihren Folterern entwickeln. Pablos wird von Pavlovsky als "nicht geschriebener [...] Schlußbuchstabe" betrachtet, wobei der Schlußbuchstabe zum Ansatzpunkt wird: Der Buchstabe ist "das Bild, das einen anderen Diskurs schafft, wenn es betrachtet wird" und das "Raum schafft für andere Szenen, die nur als Möglichkeit im Text angelegt sind". Der Autor fügt sein Konzept des dramatischen Textes als eine "Suche" an, die sich von der traditionellen Strenge löst und einen Eindruck von Anarchie bezüglich der Struktur hinterläßt. Für Pavlovsky ist somit die Struktur "eine Masche des Weges des geschriebenen Textes", d.h. eine angelegte Struktur, die sich im Bühnentext konkretisiert. Es ist ein Text mit "Leerstellen", ein Text, der übertreten werden muß. Es handelt sich nicht um eine Rekodifizierung des Textes, sondern um eine Verwindung, in der Sprache Pavlovskys um ein "erneutes Hineinschreiben von vielfältigen Sinnelementen, die im Originaltext eingesperrt waren".
In diesem Zusammenhang sollen unterschiedliche Formen der Intertextualität und deren Funktionen beschrieben werden, und zwar mit dem Ziel, die Wandlung des binären Denkens, das ein feststehendes Erkenntnissystem, eine geschlossene Struktur und einen Ursprung voraussetzt, zugunsten einer radikal offenen, sich stets wandelnden Struktur aufzuzeigen.
Hier soll dargestellt werden, wie das postmoderne Denken im Bereich der Literatur und des Theaters umgesetzt wird bzw. wie beide Gattungen das postmoderne Denken prägen. Von Bedeutung ist hier die Beschreibung zeitlicher Verschiebungen in der Kultur und deren Überlagerungen, da manche Autoren, wie etwa Borges die Postmoderne gedacht haben, bevor diese sich als Paradigma etablieren konnte.

4. Multimedialität und Übersetzung

Im Hinblick auf die drei festgelegten und erläuterten Untersuchungsschwerpunkte sollen die Inszenierungsformen unter dem Gesichtspunkt der Multimedialität und der Funktion der unterschiedlich verwendeten Kodes (Video- und Filmprojektionen, Bildende Kunst im Theater, Musik, Lichteffekte, Fotographie, unterschiedliche Textsorten, computergesteuterte Technik) untersucht werden. Im einzelnen soll sich die Analyse auf das Verhältnis zwischen dramatischem Text und Aufführungstext, unter besonderer Berücksichtigung der Inszenierung, des Phänomens der Virtualität im gegenwärtigen Theater, der Umsetzung von Texten oder Versatzstücken in Inszenierungsbildern und der Relation von Körper und Sprache beziehen.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Behandlung der Übersetzung, und zwar in mehrfachem Sinn: Als Umsetzung von Sprache im Bild, als Umsetzung von einem Text in unter-schiedlichen Inszenierungen, als Umsetzung von Elementen eines bestimmten kulturellen Kontextes in einem anderen, was besonders dann relevant wird, wenn etwa ein argentinisches Stück in Deutschland inszeniert wird oder wenn "klassische", nicht-lateinamerikanische Stücke in Lateinamerika inszeniert werden. Der Aspekt der Übersetzung thematisiert nicht nur die kulturelle Transferierbarkeit, sondern vor allem die unendlich ausdehnbare potentielle Sinnbildung hochgradig tradierter Stücke (beispielsweise Grifferos Inszenierungen von Molières L'avare oder Goldonis Il servitore de due patrone).

(A. de Toro)

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