Historische und gegenwärtige Hybridisierungsprozesse der frankophonen maghrebinischen Kultur in theoretischen, fiktional-ästhetischen und medialen Diskursen

Verantwortliche

KONZEPT und ZIELE

Hauptziel des Projektes ist die Beschreibung der maghrebinischen Kultur, vorrangig der frankophonen, aus diachroner und synchroner Perspektive im Rahmen einer Fokussierung auf Hybridisierungsprozesse. Es konzentriert sich ausgehend von dieser epistemologischen und kulturtheoretischen Fragestellung auf vier thematische Schwerpunkte und damit verbundene Objektbereiche:

1)   Kulturtheoretische Diskursstrategien: Untersuchung französischer und maghrebinischer kultur- und sozialtheoretischer, philosophischer sowie historischer Diskurse ausgehend von dem Zusammenhang hegemonialer und subversiver Strategien, einerseits vor dem Hintergrund der Frankophonie (u.a. Sprachentwicklung, Geschichtsmodell und Nationenbildung, Identität, Epistemologie/'archéologie du savoir'), andererseits vor dem Hintergrund kolonialer, dekolonisierender und postkolonialer (hybrider) Diskursstrategien. Es soll ein Korpus von Texten aufgestellt und analysiert werden, in denen ein plurales Kulturmodell entworfen wird.

2)   Fiktional-ästhetische Diskurse: Untersuchung hybrider Konstruktionen von Subjektivität und Geschichte, von partikularen und kollektiven Geschichten im Rahmen fiktional-ästhetischer Diskurse als Alternative zu hegemonialen Modellen. Hier stehen künstlerische Ausdrucksformen wie Literatur oder Film im Zentrum, die im Sinne eines spezifisch postkolonialen Ansatzes als wirklichkeits- und geschichtskonstitutiv verstanden werden.

3)   Transmedialität: Untersuchung der Transmedialität als zentrale kulturelle Strategie im Rahmen ästhetisch bedingter Prozesse und Strategien, als spannungsreicher und dissonanter Prozess von Artikulationen und Repräsentationen sowie als transkulturelle, transtextuelle und transdisziplinäre Vorgehensweise, bei der binäre Konzepte wie ‚Oralität vs. Schrift’, ‚Körper vs. Schrift’ als statische, eindimensionale Muster in Frage gestellt werden.

4)   Körper-Medium: Untersuchung des Körpers als hybrides und mediales Konstrukt mit besonderer Bedeutung für die Konstitution von Identität und Geschichte in sog. Peripherien: als Erinnerungsmatrix und -spur, als Ort von Repression und Ausschluss, Folter und Unterdrückung, Begehren und Strafen, als Dispositiv von Sexualität und Macht symbolischer und imaginärer Ordnungen.

Diese vier Untersuchungsbereiche (die im Punkt 3.2 detailliert beschrieben werden) stellen zugleich vier verschiedene objektadäquate wissenschaftliche Zugänge/Methoden dar, die den stark veränderten Produktionsformen und den komplex miteinander verbundenen Objektbereichen Rechnung tragen. Die Gliederung in vier Gebiete dient in erster Linie der systematischen Erschließung und der Bildung von Schwerpunkten und stellt keineswegs eine Isolierung der einzelnen Bereiche dar. Während sozialtheoretische, historische, philosophische und kulturtheoretische Publikationen unter einem wissenschaftlichen Aspekt bezüglich der Auseinandersetzung mit Problemen der Kolonisierung und Dekolonisierung sowie postkolonialer Denk- und Handlungsstrukturen als Alternative für eine hybride und offene Gesellschaft untersucht werden, legt das Projekt im Bereich der Kunst, hier der Literatur, den Schwerpunkt auf die Beschreibung und Interpretation des schreibenden/sprechenden Subjekts samt seiner kulturellen Verortung unter Rückgriff auf ästhetische und mediale Strategien. In die Texte fließen Bilder, Erinnerungen, Körperinszenierungen, filmische Techniken, orale Traditionen und eine bewusste Auseinandersetzung mit der Schrift ein, mit der ‚Schrift des Anderen’ (Französisch), mit dem Medium Schrift und Literatur. Sie zeigen, dass  traditionelle Gattungsformen wie Roman, Essay, Fiktion und Geschichte ineinander übergehen. Ähnliches gilt für den Film, der sich mit anderen ästhetischen und medialen Strategien den Problemen von Migration, Religion, Identität widmet und diese in der Sprache der Bilder formuliert.

Die mediale und Körperdimension ist in allen Repräsentationsformen vorhanden. In einem Zeitalter der Medien, der Bilder, gilt die ästhetische Inszenierung von partikularer und kollektiver Geschichte als etwas Erlernbares, Dynamisches, Allge­genwärtiges; die Geschichte beginnt vom Ich ausgehend zu sprechen, zu handeln. Der Körper, verstanden als mediale Größe, als Verdichtungspunkt von Erlebtem und Erlebendem wird als Instrument von Befreiung, von Subjektfindung, von Identität und Vergegenwärtigung stummer Geschichte inszeniert. Gerade im Bereich des Islam ist die Kategorie Körper, speziell für die Konstitution von weiblicher Identität, ein historisches Reservoir und ein analytisches Instrument, an dem Unterdrückung, Begehren, Folter und Befreiung gezeigt werden können. Während wissenschaftliche Diskurse Probleme benennen und analysieren, setzen medial-ästhetische Diskurse diese in eine Vielfalt von Formen um und bewirken eine breite Rezeption. Diese Konzeption macht deutlich, dass das in vier Objektbereiche und vier methodische Zugänge gegliederte Projekt einerseits eine innere Verzahnung und andererseits notwendig für sich stehende und gewinnversprechende Schwerpunkte aufweist.

Ferner wird das ausgewählte Korpus zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit tradierten Begriffen wie Wissenschaft, Fiktion, Text und damit dem Begriff von Wissenschaft und Disziplin selbst erfordern, da die meisten sog. fiktionalen Texte sich kaum noch in Gattungen wie Narrativik oder Lyrik geschweige denn in solche wie Erzählung oder Roman fassen lassen.

Ausgehend von einem postkolonialen Untersuchungsansatz in Verbindung mit einem Modell von Hybridität und Transmedialität sowie der Gender- und Kulturtheorie soll im Rahmen des Projekts eine Region beschrieben und ins Zentrum gerückt werden, die gerade aufgrund ihrer kulturellen Hybridität und Komplexität bis heute nur eine Randposition im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs einnimmt, dies auch aufgrund tiefgreifender Unterschiede zum okzidentalen Werte- und Kultur­system. Die relative Randerscheinung der Literatur und Kultur des Maghreb war bis vor nicht langer Zeit auch ein Ergebnis fundamentalistischer Tendenzen im sprachlichen, kulturellen und/ oder religiösen und sozialen Bereich, die z.T. auf die Kolonialgeschichte zurückzuführen sind. Dies hat dazu beigetragen, dass der Maghreb bzw. Teile des Maghreb sich selbst als Peripherie setzten. Nach dem 11. September haftet dem Maghreb als Teil der muslimischen Welt das Stigma des Terrorismus an. Diesen Tendenzen gilt es nun Wissen und Zugriffe auf die maghrebinische Kultur entgegenzusetzen, eine privilegierte Aufgabe kulturtheoretisch ausgerichteter Studien der Romanistik. Schon 1995, lange vor dem 11. September, hatte Arend dies als "Auftrag" beschrieben: “Wenn – wie vielfach dargestellt – an die Stelle des Feindbildes ‚Kommunismus’ nun das des Islam getreten ist, hat die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung sicherlich neben ihrem fachspezifischen auch den Auftrag, über eine verstärkte Beschäftigung mit den Literaturen des Maghreb allzu einfachen Sehweisen entgegenzuarbeiten” (1995: 37). Im Zentrum steht der Anspruch, statt einer simplen, reduktiven Dualität der Kulturen differenzierte Sichtweisen zu erarbeiten und die Hybridisierungen in kulturellen Prozessen aufzuzeigen, wie dies beispielsweise der tunesische Schriftsteller, Kunsthistoriker und Islamkenner Abdelwahab Meddeb immer wieder öffentlich fordert. In seinem jüngsten Buch La maladie de l’Islam (2002) setzt er sich kritisch sowohl mit der einseitigen Haltung des Westens, der Nichtanerkennung des Islam, als auch mit den fundamentalistischen Bestrebungen innerhalb des Islam sowie deren Ursachen auseinander.

Das Projekt birgt die Chance, gemeinsam mit maghrebinischen und internationalen Forschern, zumindest im Rahmen der akademischen Arbeit, einen Beitrag zur Aufklärung und Verständigung zu leisten, und zwar im Anschluss an die bisher in Deutschland erfolgten wissenschaftlichen Bemühungen.

Arbeitsprogramm/ ARBEITSBEREICHE

Dem Arbeitsprogramm liegen die o.g. Schwerpunktbereiche zugrunde: 1. Kulturtheoretische Diskursstrategien, 2. Fiktional-ästhetische Diskurse, 3. Transmedialität, 3. Körper-Medium, die parallel, in verschiedenen miteinander verbundenen Arbeitsgruppen untersucht werden sollen. Diese Bereiche, die den Mitwirkenden Spielraum für Ergänzungen lassen, sollen zunächst umrissen werden, um in einem zweiten Schritt das erforderliche Arbeitsprogramm aufstellen zu können.

1.  Untersuchung hybrider Diskurse in der Frankophonie und im Maghreb: zwischen “francophonie” und “Frankophonie” (diachrone Perspektive)

Bei diesem Schwerpunkt geht es um die Analyse von Diskurszusammenhängen bei der Konstitution von Andersheit im Rahmen hegemonialer Diskurse aus dem Zentrum (Frankreich als normengebende Instanz, Sprachpolitik, Ethnographie und Literatur des „Exotismus“/Primitivismus, Reise­literatur, Populärkultur u.a.) einerseits und dessen Relektüre und Wi(e)derschreiben aus der Perspektive der sog. Peripherie andererseits. Hier wird ‚Frankophonie’ als eine sich global gebärdende Machtinstitution den vielen ‚francophonien’ gegenübergestellt. D.h. auch im Inneren der Frankophonie sollen die Grenzen zwischen Zentrum („Frankophonie“) und Peripherie (‚franco­phonien’) aufgezeigt werden. Der von Onésime Reclus in France, Algérie et colonies (1880) eingeführte Begriff ‚Frankophonie’, der erst in den 60er Jahren mit neuen Bedeutungen aufkam, weist unterschiedliche Denotate mit unterschiedlichen Extensionen auf, die bereits bei Reclus vorhanden waren als er postulierte: tous ceux qui sont ou semblent destiné à rester ou à devenir parti­cipant de notre langue”/“dont nous sommes déjà les maîtres”/“les littératures francophones illustrent le rayonnement de la language française”. Im Laufe des 20. Jahrhunderts erfährt das Konzept ‚Frankophonie’ eine weitere Entwicklung, die zunächst auf das Wirken von Léopold Sédar Senghor, Habib Bourgiba und Mamani Diori zurückgeht und die dann einen sehr unterschiedlichen Verlauf nimmt, der sich seitens der ehemaligen Kolonien, Protektorate und Départements durch Annäherung und Distanzierung von Frankreich einerseits, und seitens Frankreichs durch Vereinnahmung und Abschottung andererseits kennzeichnet. Wichtig in dieser Entwicklung sind mindestens drei Etappen: erstens der Versuch, die Frankophonie zu institutionalisieren durch Gründungen wie L’Afrique-Occidentale française (A-0F) aus dem Jahre 1895 sowie L’Afrique-Equatoriale française (A-EF) aus dem Jahre 1910. Nach dem 2. Weltkrieg finden eine Reihe von Gründungen von Einrichtungen statt (1952: l’Association international des journalistes de langue française; 1954: L’union culturelle française (in Kanada); 1960: l’Association des sociologues de langue française; 1967: L’Assemblée parlementaire de la francophonie). De Gaulle gründet 1946 vor dem Hintergrund der von Frankreich den Kolonien, Protektoraten und Départements eingeräumten Autonomie l’Union française, was seinerseits 1961 die „réponse africaine“ mit der Gründung der Union africaine et malgache (UAM) ins Leben ruft. Diese Entwicklung mündet zunächst in die Agence intergouvernementale de la franco­phonie (ACCT) im Jahre 1970, die Gründung der Organisation international de la francophonie (OIF) im Jahre 1997; zweitens die Herausgabe der Zeitschrift Esprit (30. année, Nr. 311, Novembre 1962) mit dem Titel „Le Français, langue vivante“, in der eine Reihe von Beiträgen mit “Gründungsgeist”, u.a. der legendere Beitrag von Senghor mit dem Titel “Le français, langue et culture” zu finden ist. Hier wird das Verbindungsglied in einer gemeinsamen Sprache und Kultur proklamiert, die als Klammer zur Differenz agiert. Drittens mündet die Entwicklung in eine internationale Forschung im Rahmen einer postkolonialen Lektüre der Kolonialgeschichte, die sich in der Entwicklung eigenständiger kultureller Positionen und Strategien manifestiert, eine gegenwärtige Etappe, in die sich das Projekt einreiht.

Im Projekt unterscheiden wir zwischen ‘Frankophonie’ und ‚frankophonie’. Mit ‘Frankophonie’ ist die gesamte französische Sprachgemeinschaft gemeint, in der Frankreich als Norminstanz fungiert, und zugleich eine sehr heterogene Gemeinschaft von 49 Staaten (ohne Algerien), versammelt in der OIF; zweitens die ‚frankophonie’ als eine Vielzahl von Sprachvarietäten, Kulturräumen und Kodizes, die eine hybride Struktur bilden, in der das Französische eine Varietät und Frankreich ein Kulturraum unter anderen darstellt. ‚frankophonie’ wäre damit immer ein hybrides Konstrukt, aber de facto auch die ‚Frankophonie’, da hier auch eine politische, ethnische, kulturelle und wirtschaftliche und soziale Heterogenität herrscht und zwar trotz der institutionellen Umklammerung.

Auf der anderen Seite muss der Begriff frankophonie im Maghreb vor dem Hintergrund der arabischen und berberischen Sprache und der Maghreb-Kultur so reflektiert werden, dass diese Kultur weder eine Varietät Frankreichs (im Anschluss an Reclus so gesehen) ist, noch rein arabisch. Der Maghreb, wie die frankophonie, bildet seinerseits einen hybriden und höchst konfliktreichen Raum, einen Zwischenraum.

Demnach ergibt sich der Schwerpunkt der diachronen Perspektive aus dem Zusammenhang von institutionalisierten und nicht-institutionalisierten Bereichen von “Franko­phonie” und “franco­phonie sowie der Spannung zwischen einem aufgesprengten hybriden Kulturraum und dem Versuch der Homogenisierung. Die These lautet, dass Konzepte von ‚Hybridität’ und ‚Postkolonialität’ sowie die Fokussierung unaufhebbarer kultureller Differenz eine Revision konventionell vereinnahmender und hegemonialer Strategien erlauben und die Herausarbeitung der kulturellen Spezifik des maghrebinischen Raums als einem eigenständigen Zwischenraum erlauben.

Dieser Projektteil soll nicht eine übliche empirische Arbeit, sondern in erster Linie eine grundsätzliche Dekonstruktion leisten: Die ausgewählten theoretischen und literarischen sowie filmische Texte einer postkolonialen Lektüre unterwerfen und dadurch eine neue Konzeption von “Frankophonie” entwerfen.

Dabei werden folgende Schwerpunkte im Zentrum der Untersuchungen stehen: Sprachlandschaft, Konstruktionen von Geschichtsmodellen und Nationsbegriffen, Identität; Epistemologie/ archéologie du savoir’), Kolonial- Dekolonisierungs- und postkoloniale Diskurse, woraus sich die Projektgruppen und deren Module ergeben.

Projektgruppe 1 – Arbeitsprogramm - Schwerpunkte zu 1

AP/SP 1: Diachroner Überblick über Positionen in internationalen Frankophoniediskursen mit Schwerpunkt Maghreb.

AP/SP 2: Diachroner Überblick über die Positionen aus der Perspektive maghrebinischer Diskurse zur Kolonisierung (Moderne) und Dekolonisierung (Verhältnis Zentrum/ Peripherie; Hegemonie/ Unterwerfung/ Exotisierung/ Rationalität/ Irrationalität/ Reduktion sprachlicher und kultureller Vielfalt; die Besetzung durch Frankreich (1830) bis zur Unabhängigkeit 1962. (Postdoc)

AP/SP 3: Zu postkolonialen hybriden Diskursstrategien im Maghreb und in der Frankophonie (maghrebinische und frankophone Positionen der Postkolonialität)

AP/SP 4: Untersuchungen zu Theorien der ‘créolité’ und ‘métissage’ in Beziehung zu Hybridität im kulturtheoretischen, transkulturellen und transdisziplinären Kontext, in der internationalen Debatte und aus der Perspektive der Maghrebdiskurse.

2.     Untersuchung fiktional-ästhetischer Diskurse zur kulturellen Konstruktion von

Geschichte und Subjekt (Roman und Film)

In Verbindung mit dem ersten Schwerpunkt und den hieraus gewonnenen Teilergebnissen sollen Hybridisierungsstrategien vorrangig in künstlerischen Ausdrucksformen wie Roman und Film untersucht werden, in denen kollektive und partikulare Geschichte/n als subversive Konstruktionen der kanonischen, offiziellen (National-)Geschichte entfaltet werden und in denen die untrennbare Verflechtung von kollektiver und individueller Erfahrung, und zwar gerade in einem durch Kolonisierung, z.T. durch Fundamentalismus und Moderne, Dekolonisierung und Postkolonialität aufgesprengten Raum, aufgezeigt werden kann. Können im okzidentalen Diskurs kollektive und partikulare Geschichte/n (Autobiographie) voneinander getrennt werden, so wie wir es aus der französischen ‚neuen Autobiographie’ kennen, ist dies in der Maghrebliteratur nicht möglich. Daher müssen und werden beide Größen zusammen untersucht (Khatibi 1971/1983; Benstock 1988; Lionnet 1998; Hornung/Ruhe 1998/99; de Toro 1999; Gronemann 1999, 2000, 2002)

Es geht dabei um die Konstruktion von kollektiver Geschichte und Identität in individueller und kollektiver Weise, d.h. um die Konstitution der Größen Subjektivität und Geschichte, die sich nicht mehr nach Rasse, Herkunft, Nation und nur bedingt nach Muttersprache definieren, sondern im Rahmen hybrider Diskursformationen (etwa bei Khatibi und Boudjedra). Die Untersuchung bewegt sich dabei jenseits einer Suche nach essentialistischen Authentizitätskonzepten (im Sinne monokausaler Erklärungsmuster) und jenseits des Versuchs, Identität in einem europäisch-frankophonen Universalismus aufgehen zu lassen. Die diskursive Konstruktion von partikularer und kultureller Identität soll als unabschließbarer Prozess beschrieben werden, ohne ‚Identität’ zu negieren. Vielmehr wird sie definiert als wandelbares, dynamisches Zuschreibungsverhältnis. Khatibi zeigt den Weg dieser “identité plurielle”, wenn er fordert, sich von der “obsession de l’origine, de la identité céleste et d’une moral servile” bzw. dem “au-delà, transcendance” zu verabschieden zugunsten einer bewussten “excentricité, dissymétrie” und “altérité”.

Projektgruppe 2 – Arbeitsprogramm - Schwerpunkte zu 2 (Literatur und Film)

AP/SP1:  Konstruktionen und Modelle von Geschichte: ‘Orient vs. Okzident’ oder ‘Orient und Okzident’

AP/SP2:  Konstitutionsformen des autobiographischen Subjekts/Identität und Genderstrategien im islamischen Kontext

AP/SP3:  Fiktion als Dekonstruktion der Geschichts­schreibung (Problematisierungen von und Strategien zu Fiktions- und Geschichtsbegriffen sowie Referenzsystemen (Probleme der Mimesis und Verhältnis zu Literarizität und Film)

3. Untersuchung transmedialer Strategien: Oralität und Schrift, Film und Literatur als kulturelle Medien

Im dritten Schwerpunkt, der sowohl mit dem ersten als auch dem zweiten eng verbunden ist, wird die Frage nach der medialen Verfasstheit jener Diskurszusammenhänge ins Zentrum gerückt, der seine kulturelle Relevanz aus der Verbindung von Oralität und Schrift sowie damit verbundenen Größen wie ‚Körper’, ‚Materialität’, ‚Macht’ u.a. gewinnt. ‚Transmedialität’ als ein Konzept der medialen Entgrenzung stellt dabei ein wichtiges methodisches Fundament dar, weil es die gezielte Koppelung medialer Formen und die Überschreitung zwischen Oral- und Schriftkultur zu erfassen vermag.

Demnach wird die ‚Metatextualität’ eine zentrale Rolle spielen, da dies der Ort ist, wo eine explizite Auseinandersetzung mit einer sprachlichen Hybridität bzw. mit spannungsreichen Sprachräumen stattfindet, die dem oben erwähnten aufgesprengten kulturellen Raum äquivalent ist.

Obgleich die Schrifttradition im Maghreb mit der Islamisierung im 7. Jahrhundert beginnt und eine zweite Schrift, das koloniale Französisch im 19. Jahrhundert hinzutritt, handelt es sich nicht um eine allein auf die Schrift als kulturelle Äußerung fixierte Kultur wie die westliche “Gutenberg-Galaxis”. Neben der normierten Koranschrift existieren regional ausdifferenzierte und nichtver­schriftete Dialekte (Arabisch, Berberisch sowie deren Mischung), so dass sich zwischen mündlichem und schriftlichem Arabisch eine Diglossie entfaltet. Beide Varietäten ergänzen sich durch ihre unterschiedliche Funktionalisierung und werden in verschiedenen Kommunikationssituationen gesprochen. So bilden die Dialekte beispielsweise noch heute eine wichtige soziale Basis und prägen die Alltagskommunikation, während das Schriftarabisch des Koran nur in der religiösen Praxis eine Rolle spielt. Es gilt darüber hinaus auch als literarisch überlegene Sprache und unerreichbares Vorbild, weshalb die arabische Literatur gewissermaßen in permanenter Konkurrenz zum Ideal des Koranarabisch steht. Das Koranarabisch – im übrigen die einzige vokalisierte Schriftform der ansonsten konsonantischen Schrift des Arabischen – stellt auch wegen seiner Resistenz gegenüber Sprachwandel eine unantastbare Norm dar, vermag aber andererseits den Bedürfnissen einer modernen Kommunikation nicht mehr gerecht zu werden.

Seit dem 19. Jahrhundert bildet sich eine Form des Arabischen als lingua franca der islamischen Welt heraus, die als modernes Arabisch bezeichnet und heute vor allem in den Medien sowie den Institutionen verwendet wird. Das Arabische besitzt heute also mehrere Existenzformen, neben dem Koranarabisch das moderne oder Neuhocharabisch, die Regionaldialekte sowie darin ausgeprägte Mischsprachen.

Neben der diglossischen Situation des Arabischen und der Minderheitensprache des Berberischen prägt die maghrebinische Kultur vor allem eine bilinguale und digraphische Beziehung zwischen Arabisch und Französisch, die die Spezifik der maghrebinischen Literatur bewirkt und insbesondere zur Entstehung einer postkolonialen französischsprachigen Literatur beiträgt. Das frühere koloniale Französisch ist zumeist aktive Zweitsprache. Es dient neben dem Arabischen als offizielle Verkehrssprache und wird in ganz spezifischen Bereichen verwendet wie beispielsweise der modernen Wissenschaft, der Politik und auch den Medien. Vor allem zwei Aspekte bestimmen den Gebrauch der französischen Sprache: Zum einen ihre Verschriftung und Normierung, die sie gegenüber den Muttersprachen aufwerten und darüber hinaus ihr säkularer Aspekt, welche auch ihre literarische Verwendung bedingen. Das Französische bietet in zweierlei Hinsicht die Möglichkeit zu einer Kommunikation jenseits traditioneller religiöser Vorstellungen, sowohl im alltäglichen Bereich wie auch im literarischen Bereich. Dennoch birgt auch der Verzicht auf die Muttersprache in der Literatur vielfältige Probleme und Nachteile. So hat die mündliche Existenzweise der Dialekte entscheidende Wirkung auf die Formen der Tradierung und prägt ein an die Oralität gebundenes kulturelles Gedächtnis, welches sich bis heute in der maghrebinischen Literatur niederschlägt.

Die europäische, durch den modernen Kolonialprozess nach Afrika vorgedrungene Sprache des Französischen hat heute – fast ein halbes Jahrhundert nach der Unabhängigkeit (Tunesien/Marokko 1954; Algerien 1962) – noch immer eine zentrale Verständigungsfunktion und wurde entgegen den Arabisierungstendenzen nicht verdrängt. Weder das “museale Koranarabisch” (Keil 1989: XVIII) noch die Dialekte vermochten das Französische und seine Funktionen zu ersetzen. Vor allem durch den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess scheint das Französische als “Fenster zur Welt” (ebd.: XIX) unentbehrlich und die an die Sprache geknüpften Verbreitungsmöglichkeiten verschaffen der ehemaligen Kolonialsprache eine zwar problematische, aber zugleich lebendige Gegenwart, die poetisch außergewöhnlich fruchtbar ist.

Beispielsweise in Algerien ist die Zweisprachigkeit in Folge einer lang anhaltenden und massiven französischen Vorherrschaft noch heute ein Politikum und kann selten ohne ideologische Aspekte betrachtet werden. Trotz zahlreicher Versuche konnte sich in Algerien im Verlauf der Geschichte keine der beiden Sprachen als Nationalsprache durchsetzen. Von französischer Seite wurde nicht nur ein Schulwesen installiert, in dessen Geschichtsbüchern es hieß: “nos ancêtres, les Gaulois”, sondern 1938 sogar ein Dekret verabschiedet, welches das Arabische zur Fremdsprache erklärte. Die Umkehrung einer derart endoglossischen Sprachpolitik wird von algerischer Seite durch Rearabisierungen versucht – die jüngste zu Beginn der 90er Jahre mit der Folge gewaltsamer Auseinandersetzungen. Allein in Tunesien, wo die französische Schule die arabische Bildung nicht ersetzt hat, ist die Wahl der kolonialen Sprache weniger eine kulturpolitische Notwendigkeit als vielmehr eine freie Entscheidung jedes Einzelnen.

Obwohl man vermuten könnte, dass die französische Sprache wegen ihrer kolonialen Muster und kulturhegemonialen Implikationen “abgewählt” wird, besinnen sich maghrebinische Autoren aus unterschiedlichen Motiven – von besseren Buchmarktchancen bis zur Umgehung traditioneller Tabus oder einfach besonderer literarischer Wertschätzung des Französischen – ihrer Option, in der “fremden” Sprache zu schreiben und gerade mittels der Distanz zur Muttersprache subversive Strategien der Bedeutung zu entfalten. Der Fortbestand des Französischen im Maghreb stellt aufgrund dieses Gebrauchs keine Fortführung des Kolonialprozesses dar, sondern wird zur Triebkraft einer beispiellosen literarischen Entfaltung, für die die ambivalente Haltung gegenüber dieser Sprache und der daraus hervorgehende Identitätskonflikt konstitutiv wird. Spätestens mit Erreichen der politischen Unabhängigkeit in allen maghrebinischen Staaten erfolgt eine Neubestimmung der Beziehung zur französischen Sprache, die nicht mehr nur Sprache des Feindes ist, sondern als Beute (“butin”, Djebar 1985) aus dem Kolonialprozess gewissermaßen erobert wird. Sie wird in den Dienst einer literarischen Auseinandersetzung mit dem kolonialen Denken einerseits sowie mit den Beschränkungen der eigenen Tradition andererseits gestellt und vermag als Sprache des Anderen gleich einen doppelten Zweck zu erfüllen: “the language of the Other can serve as double purpose: it may be the arena for confrontation, for resistance to the Other, but it may also be a means of self-liberation” (Mehrez 1992: 123). Gerade in diesem spannungsreichen Zwischenraum entfaltet sich eine kulturelle Hybridität, die Hybriditätsstrategien für soziales Handeln bietet, die im Projekt beschrieben und weiter entwickelt werden sollen.

Projektgruppe 3 – Arbeitsprogramm - Schwerpunkte zu 3

AP/SP1: Sprachlich-kulturelle Hybridität als Passagen

AP/SP2: Weiblichkeit: Islam, Schrift, Oralität und Körper
AP/SP3: Orale und filmische Strukturen in der Literatur
AP/SP4:  Film: cinéma beur

4.  Untersuchung von Körper-Medium-Körperschrift

Das Hauptanliegen in diesem vierten und letzten Teilprojekt besteht in der Untersuchung des Umgangs mit der Sprache als eine an Körper, Begehren und Sexualität gekoppelte Schrift, die wiederum diese drei Begriffe und die der Schrift umdeuten. Körper wird hier als ein mit Wissen ausgestattetes Medium, das medial eingesetzt wird, verstanden, so dass der Körper zugleich Objekt des Mediums und Inszenierungsmedium selbst ist. Daher sind ‚Körperstrategien’ zugleich ’literarische Strategien’. Körper wird als Erinnerungsspur kolonialer, dekolonialer und postkolonialer Prozesse inszeniert, etwa in Khatibis Amour bilingue und Boudjedras La prise de Gibraltar. Der Körper wird als kulturell, medial aufgespaltene Schnittfläche der Repräsentation verstanden und in Aktion gesetzt als Spalt, als Babel, als Quelle der Sinnstreuung. Der Körper fungiert als Buch, als das BUCH der Bücher, was zunächst auf den Koran hinweist. Der Koran als eine heilige Schrift wird aber desakralisiert zugunsten der begehrenden Körperschrift: Während der Koran von göttlicher Hand, unterstützt von einem Engel, geschrieben worden ist, wird etwa in Amour Bilingue der Körper als Körperschrift durch eine unendliche Textualität des Begehrens umgewandelt. Das Körpergewicht von Tarik, in La prise de Gibraltar, verbindet Tarik, den Ich-Erzähler, mit der historischen Figur und Moussa ibn Noçaïr, dem Chef von Tarik ibn Ziad, aus dem 7. Jahrhundert, wirkt als glissement und in den Falten des Körpers und der Körpergeschichte befindet sich die kollektive Geschichte: “L’histoire alors s’incrustant à travers les plis et les replis de son corps obèse”. Die Geschichte des Körpers ist z.B. mit der Geschichte von Schülern der Koranschulen, aber auch mit Peinigung und Folter verbunden.

Projekt 4 – Arbeitsprogramm - Schwerpunkte zu 4

SP1:   Körper und Schrift, Körperinszenierung, Körper als hybrides mediales Konstrukt, als Geschichtsquelle, Körper als Wissen; Körper und Islam

 

Workshops

Einmal jeweils am Semesterende wird ein Workshop mit allen TeilnehmerInnen der einzelnen Projektgruppen sowie mit einem ausgewiesenen Gastvortragenden veranstaltet, um Ergebnisse auszutauschen und gegebenenfalls in andere Arbeitsschwerpunkte einfließen zu lassen. Damit sollen Transdisziplinarität und dementsprechend die Ergebnisse gesichert werden.

Internationale Kongresse

Diese werden stattfinden, damit Doktoranden und Postdoc ihre Themen vorstellen und international ausgewiesene WissenschaftlerInnen Beiträge zum Projekt samt Präzisierung oder Ergänzung der Fragestellungen unterbreiten.

2005: Hybridität – Frankophonie – Maghreb:

I)     Hybride Diskurse in der Frankophonie und im Maghreb: Zwischen “francophonie und “Frankophonie” (diachrone Perspektive)

II)  Fiktional-ästhetische Diskurse zu kulturellen Konstruktionen von Geschichte und Subjekt (Roman und Film)

Juni 2008: Hybridität – Frankophonie – Maghreb:

    III) Transmediale Strategien: Oralität, Schrift, Film, Körper, Literatur als kulturelle Medien

 

Methodische Grundlagen und theoretisch-epistemologische Basis (Prof. de Toro)

Das Projekt geht von einem kulturtheoretischen semiotisch und epistemologisch geprägten Ansatz aus, welcher kulturelle Einzelerscheinungen im Gesamtkontext interdisziplinär zu erörtern ermöglicht und so zu einem ausdifferenzierten Wissen gelangt. Hier gehen wir von Foucaults Begriff der Diskursformationen aus, der Begründungszusammenhänge erschließt und uns in die Lage versetzen soll, kulturelle Prozesse in einem größeren Kontext zu untersuchen und sie damit besser verstehen zu können. Bei diesem Versuch greifen wir auf die Begriffe rhizome (Deleuze/Guattari), Ré-écriture und Paralogie (Lyotard) sowie das Konzept der metahistory (White) zurück, die von einem Bruch, einer Dezentrierung und Relativierung des Wahrheits- und Realitätsbegriffs ausgehen. Die genannten Ansätze begreifen kulturelle Phänomene in einem steten Zustand der Bewegung, als vielfältige nomadische Begegnung mit dem Anderen und mit dem Anders­sein, als eine rekodifizierte, innovative Begegnung zwischen dem Lokalen und dem Fremden. Gerade sie ermöglichen es, essentialistische Reduktionen zu vermeiden, die Differenz und Alterität auf einer ontologischen Ebene fixieren. Daher greift das Projekt auf die Theorie der Postkolonialität zurück, die Instrumente zur Verfügung stellt, um derartige essentialistische Paradigmen zu dekonstruieren, um den ‚Anderen als Anderen’ wahrnehmen zu können, den ‚Anderen’ in seiner Differenz und Selbstrepräsentation zu denken, ohne ihn auf Fremdzuschreibungen festzulegen oder als Folie zur eigenen Identitätsbeschreibung zu instrumentalisieren. Diese nicht-essentialistische Position verzichtet auf die Bestimmung eines Ursprungs und beschreibt Identität im Sinne Bhabhas, Khatibis und Boudjedras u.a. als “bewohnen” eines kulturellen Raumes. In diesem Zusammenhang sollen unterschiedliche Formen der Intertextualität und deren Funktionen beschrieben werden, und zwar mit dem Ziel, die Wandlung des binären Denkens, das ein feststehendes Erkenntnissystem, eine geschlossene Struktur und einen Ursprung voraussetzt, zugunsten einer radikal offenen, sich stets wandelnden Struktur aufzuzeigen.

© Prof. Dr. Alfonso de Toro und Dr. Claudia Gronemann (IAFSL/Institut für Romanistik der Universität Leipzig)

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