aus der Süddeutschen Zeitung (1.7.96) :

Die neue Orthografie

Ein kleiner Kompass für Newcomer, Raubeine, Wandalen und andere Tollpatsche

Am heutigen Montag, den 1. Juli [1996], unterzeichnen in Wien die deutschsprachigen Länder eine gemeinsame Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Die neue Orthografie wird am 1. August 1998 wirksam und soll in einer Übergangszeit bis zum 31. Juli 2005 umgesetzt werden. Im Folgenden ein Vorgeschmack, konzipiert anhand des Bertelsmann-Wörterbuchs Die neue deutsche Rechtschreibung. Dass ihr kein überschwänglicher Empfang zuteil würde, der neuen Orthografie, sobald sie zu Stande käme, das war uns bewusst. Dass sie den einen ein Gräuel sein würde, den anderen ein Stuss, kein Quäntchen besser, aber potenziell konfuser und ein bisschen weniger scharmant als die frühere, ist eine Plattitüde. Den Einen ist sie nur ein Sidestepp vor einer substanziellen und essenziellen Rechtschreibreform, die anderen - oder auch nur anders Denkenden - werden ganz gräulich im Ungewissen gelassen, ob sie damit zu Rande kommen werden oder nicht.

Des Weiteren ist kein Verlass mehr auf alle Regeln, die uns eingebläut wurden und die wir aufwändig auswendig lernen mussten, in allen Fassetten und Fassonen. Im Übrigen kann gewiss jeder Beliebige die neue Orthografie behände zu Grunde richten, kann sie zu Schanden gehen lassen an seinem Überdruss, weil sie ihm nicht zupass kommt, weil er sie schon im Voraus bloß für einen aufwändigen, aber nichtssagenden neuen Zierrat an einem Regelwerk hält, das außer Acht zu lassen ihm bisher schon schwer gefallen ist, wie er im Nachhinein missvergnügt und ein bisschen belämmert feststellen muss.

Vieldeutiges Stammprinzip

Es ist nahe liegend und darüber muss man sich bis ins Kleinste im Klaren sein: Es kommen raue, aber rohe und zähe Zeiten, für Jung und Alt und Arm und Reich, nicht nur für Kängurus, Delfine und Gämsen, für Panter und Tunfische. Jeder 'Stengel' muss gewärtigen, orthografisch zu Recht zum Stängel zurechtgestutzt zu werden, jede 'Schneewächte' muss sich zur Schneewechte umschreiben lassen, aus jeder 'Schenke' kann im Hand- und Wortumdrehen eine Schänke werden - immer der fragwürdigen Logik des viel beschworenen und viel besprochenen, aber dennoch vieldeutigen Stammprinzips gehorchend, demzufolge wir uns in Hinkunft zwar werden schnäuzen müssen, wenn wir am Ende nicht verbläut werden wollen, trotzdem aber die Älteren weiterhin als Eltern werden ehren dürfen.

Wie das?, fragen wir verwirrt, und werden im Folgenden belehrt. Das Stammprinzip verfolge das Ziel, die gleiche Schreibung eines Wortstammes möglichst in allen Wörtern einer Wortfamilie sicherzustellen, erfahren wir. Dennoch ist die neue Orthografie im Zweifelsfalle lieber unlogisch als pingelig. Etymologische Pedanterie oder auch nur Folgerichtigkeit wird ihr keiner nachsagen können. Trotz allem, was da krauchen mag, bleibt's beim Kreuchen und Fleuchen. Kein Kerl muss sich den innewohnenden Karl künftig anmerken lassen, man darf edel sein und doch auf den Adel dahinter vergessen, man darf fertig sein, ohne fahrtbereit, 'fährtig' sein zu müssen.

So dürfen wir allem Schwanken zum Trotz beim Schwenken bleiben. Auch den Schwengel dürfen wir getrost im Schwange lassen. Sogar den Schlegel dürfen wir behalten - allerdings nur in Gestalt des Rehschlegels. 'Das Werkzeug zum Schlagen, das vor allem im Bergbau verwendet wird', lernen wir, muss in Zukunft Schlägel geschrieben werden. Der 'Trommelschlegel' vertschüsst sich also, als Ersatz wird ihn künftig der Trommelschlägel ersetzen.

Keine Fisimatenten kennt die neue Orthografie, wenn wir bei den Fremdwörtern im Finstern tappen. Es kommen raue, aber rohe und zähe Zeiten für Portmonees und Nessessärs, für den Schikoree, das Kommunikee, das Varietee und das Pappmaschee. Die 'Tranche' wird transchiert zur Transche - aber die Branche ist davon nicht tangiert. Das ist zwar kein Malheur für Cowboys und Covergirls und auch keine Katastrophe für Restaurants, die allesamt bleiben dürfen, wie sie sind. Die Maläse beginnt bei der Majonäse, die ebenso wie das Ketschup und die Karamellkrem im Frigidär nicht mehr sicher ist.

Während Rheumatiker und Rhetoriker zwar neuerdings hungers sterben können (sofern sie nicht va banque spielen wollen), aber wenigstens wie der Rhabarber noch im Genuss ihres humanistischen H bleiben, droht der Verlust desselben dem armen Katarr und der bedauernswerten Myrre. Den weiland 'Hämorrhoiden' wird nicht nur das klassische H abgeknappst - sie werden sich künftig, zu schäbigen Hämorriden verstümmelt, durch die Krankengeschichten schleppen müssen, ohne die Chance, die Schose je wieder richtig stellen zu können, so nahe liegend das auch wäre. Man muss nicht besonders übel wollend sein, um sofort zu erkennen, dass ihnen übel mitgespielt wird.

Man wird sich fragen müssen, welch klassischem Bildungsvorbehalt wohl das Phänomen zu verdanken ist, dass der Mythos, die Metapher, der Rhythmus und die Philosophie dem Schicksal der Fotografen, Megafone, Kakihosen, Panter und Tunfische vorderhand entgangen sind - einem Schicksal, das den Zenit schon früher um seinen Schlusshauch gebracht hat -, während andererseits der 'Zephir' eine wundersame Metamorphose zum Zephyr erleben darf. Und der Frisör wird sich fragen müssen, warum die Friseuse ebenso ungeschoren bleibt wie der Coiffeur und warum die Coiffure nicht mit der Frittüre und der Konfitüre über einen Kamm geschoren wird. Der Hairstylist ist als Anglizismus überhaupt favorisiert: außer seinem Bindestrich büßt er nichts ein.

Apropos Bindestrich. Der Newlook der deutschen Rechtschreibung bedeutet auch einen Showdown für Cornflakes, Cooljazz und Cornedbeef, für Sexappeal, Fastfood und Commonsense, für Actionpainting, Floppydisks, Jobsharing und Midlifecrisis: ob openair oder nicht - der Bindestrich steht fortan auf dem Aussterbeetat, auch wenn er beim Play-back ein Black-out hat und beim Stand-by und Make-up ein Come-back zu Stande bringt, das ihm beim Kickoff versagt bleibt. Jeder Tepp kriegt den Tipp und setzt auf Stopp. Er sieht, dass der westfälische Schinken der Kleinschreibung verfällt, die den Westfälischen Frieden gerade noch verschont hat. Er sieht, dass Schlammmassen und Schrotttransporte drohen, nicht nur Seeelefanten, Teeeiern und Balletttänzern, die kein Kaffeeersatz von der Fresssucht wird heilen können. Ohne ihm nahe treten zu wollen, tun wir, was nahe liegt: ganz bewusst platzieren wir einen so dicken wie vorläufigen Schlussstrich.


SIGRID LÖFFLER

(aus der Süddeutschen Zeitung vom 1.7.96)

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