Gegensätze ziehen sich an oder Gleich und Gleich gesellt sich gern

Maximilian Frankowsky
Das menschliche Denken hat viele Dualismen hervorgebracht: Analysis–Synthesis, Yin–Yang, Leib–Seele, Gott–Mensch, Null–Eins, Kaffee–Tee, Katze–Hund, Bausparvertrag–Dogecoin, Dortmund–Leipzig, Horde–Allianz, Linguist:in–normaler Mensch. Zwar hat es Versuche zum Tertium Datur gegeben, bei denen den Menschen also etwas komplexeres als eine Zweiteilung zugemutet wurde: Quantenmechanik, Seyn–Seiendes–Dasein, rot–gelb–grün, Glumanda–Schiggy–Bisasam. Dennoch sind Dualismen die Konstante menschlichen Denkens schlechthin. Und auch aktuell tendiert man zum Dualismus. Zu beobachten ist das beispielsweise im Feuilleton jeder überregionalen Zeitung Deutschlands: hier der alte, weiße, autofahrende CDU-Provinzler; da die junge, grüne Stadtradlerin mit Migrationshintergrund.

Das Leibnitz-Gesetz

Einer der universalsten Dualismen überhaupt ist dabei das Leibniz-Gesetz, also die Unterscheidung gleich–ungleich, beziehungsweise, Unterscheidbarkeit–Ununterscheidbarkeit. Zwei Objekte oder Ideen sind entweder identisch oder unterschiedlich. Die Sprache steht in einem besonderen Spannungsverhältnis zwischen diesen Polen. Einerseits ist Identität von sprachlichen Einheiten eine absolute Notwendigkeit. Alle Sprachen beruhen darauf, dass geäußerte Sprachlaute mitunter identisch sind. Wäre das anders, wichen also alle sprachlichen Elemente stets voneinander ab, wäre jedes Wort neu und den Gesprächspartnern also unbekannt. Für den Informationsaustausch wäre das sehr störend. Andererseits müssen sprachliche Einheiten in einem gewissen Maße unterschiedlich sein, sonst erginge es einem wie dem Monsieur Tan, einem Studenten aus Frankreich, der Mitte des 19. Jahrhunderts gelebt hat. Er konnte trotz einer Hirnläsion zwar uneingeschänkt denken, wegen ebendieser aber nur noch die Silbe ‚Tan‘ aussprechen. Die Kommunikation mit ihm gestaltete sich schwierig. Auch wenn alle Laute, die man ausstößt, identisch sind, ist Kommunikation also unmöglich.

Sprachen begegnen dem Dualismus gleich–ungleich von daher meist mit einem System, bei dem sprachliche Segmente zwar gelegentlich identisch sind, diese Segmente aber nicht direkt hintereinander auftreten. Laute werden beispielsweise wiederholt, wenn sie in mehreren Wörtern vorkommen; Wörter, wenn auf ein bestimmtes Konzept mehrmals verwiesen wird; Sätze, wenn eine Äußerung zitiert wird. Meist findet die Wiederholung dabei aber eben nicht unmittelbar statt. Stattdessen stehen andere Elemente zwischen den identischen Lauten, Wörtern oder Sätzen. Andernfalls ergäbe sich ein komischer Effekt. Andernfalls ergäbe sich ein komischer Effekt.

Ein Opfer des Zufalls

Schwierig wird es für die Sprecherin oder den Sprecher, wenn sich ein Segment allzu bald wiederholt, also so, dass nur wenig oder gar nichts zwischen den identischen Elementen steht. Im Deutschen passiert das selten und wird von den Sprecherinnen und Sprechern ergo nicht erwartet. Und meist passiert es, wenn es passiert, zufällig. Opfer eines solchen Zufalls wurde kürzlich der arme Jörg Schönenborn.

Jörg Schönenborn präsentiert seit 900 Jahren Wahlergebnisse in der ARD und ist eigentlich ein sehr kompetenter und korrekter Mensch: adrett gekleidet, gut frisiert und sicher im Umgang mit der Videowand. Der Videoausschnitt zeigt ihn bei der Moderation der letzten US-Wahl. (Trotz des dualistischen Wahlsystems hatten die US-Amerikaner dabei allerdings nur die Wahl zwischen einem alten, weißen, rassistischen Mann und einem alten, weißen, nicht so rassistischen Mann – immerhin). Schönenborn gibt im Videoausschnitt einen Ausblick darauf, zu welchen Zeiten die Ergebnisse welcher US-Bundesstaaten zu erwarten sein würden. Zunächst verweist er auf Staaten, die den Ausgang der Wahl wohl nicht beeinflussen würden. Dann zeigt er, wann es ans Eingemachte geht, nämlich um 2:00 Uhr, und erklärt, warum das so ist: das Wahlergebnis von Florida liegt dann vor.

Schönenborn hat in diesem Moment kein Glück: Viele Umstände formieren sich zu einem teuflischen Zufall: Dass Florida auf -da endet, dass Schönenborn noch einmal auf den Zeitpunkt 2:00 Uhr Bezug nehmen will und dafür das Adverb da verwendet, dass er das Eingemachte, an das es dann geht, mit dann betonen möchte und dass die Ergebnisse des erwähnten wichtigen US-Staats um 2:00 dabei sein würden. Die Silbe da ist für eine Zeitlang derbe überrepräsentiert. Die Syntax des Deutschen tut ihr Übriges und führt dazu, dass vier Silben hintereinander identisch sind (abgesehen von der Koda bei dann – aber ist ja nur ein Nasal). Es kommt wie es kommen musste: Er verstolpert den Satz übelst.

Es ist eben, als wolle man dasselbe Bein mehrmals hintereinander zum Gehen verwenden, den ersten Schritt nach dem ersten machen, das gerade fixierte Standbein zum Fortschreiten vom Pflaster lösen. Man stürzt. Auch – oder gerade – im Deutschen. Ich sollte hier aber nicht nur von den anderen Sprachteilnehmenden sprechen. Auch mich setzt der Zufall mitunter auf diese Weise – obwohl ich mich ansonsten selten verhaspel – matt. Man kann diese Situationen üben. Etwa an so schönen Sätzen wie diesem hier:
Die, die die, die die Dietriche erfunden haben, tadeln, tun unrecht.

Artikulatorische Herausfoderungen

Es braucht einige Zeit, bis man raus hat, wie oft hier die Lautfolge [diː] produziert werden muss. Es ist eben – vor allem für das Deutsche – sehr unüblich. Ergibt sich ein zu kleiner Abstand zwischen identischen Einheiten, bekommt man artikulatorische Probleme. Und wie oft man es mit diesem Satz auch übt: Auf andere Situationen, in denen identische Segmente zu oft direkt aufeinander folgen, ist man dennoch nicht vorbereitet.

Aber warum ist das so? Warum können Gehirn und Sprachapparat (unmittelbar) identische Segmente weniger gut meistern als distinkte? Warum kann Schönenborn den Satz „Unter anderem ist Florida da dann dabei“ nicht aussprechen? Prinzipiell müsste doch eine Abfolge von Lauten unabhängig davon, ob die Silben adjezent identisch sind, gleich gut aussprechbar sein? Spricht man einfach nur – wie einst mal sehr trendy in Zürich – die Silbe [daː] mehrmals hintereinander aus, zeigt sich, dass es keinerlei Ausspracheprobleme mit dieser Silbe gibt: da-da-da-da. Anders als bei Silben, die aus schon aus rein artikulatorischen Gründen suboptimal sind (etwa [mtp͡fr]), scheint also die Silbe [daː] an sich kein Problem für die Artikulatoren des Menschen darzustellen. Warum also scheitern Gehirn und artikulatorischer Apparat in Situationen wie der von Jörg Schönenborn?
Eine Antwort kann die Verquickung zweier Kleist-Texte bieten: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ und „Über das Marionettentheater“. Grob vereinfacht besagt der erste Text, dass man beim Sprechen am besten einfach drauf los redet; dann werde die Rede gut. Der zweite Text besagt, noch gröber vereinfacht, dass das Bewusstsein des Menschen dem Instinkt des Tieres (und der Vollkommenheit eines Gottes) unterlegen ist.

Es ist – so kann man die Texte auf den Schönborn-Stolperer anwenden – das Aufhorchen und in der Folge das Unterbrochen-worden-sein, was dem Sprachfluss des Moderators den Garaus macht. Schönborn betet die Zeitplanung für die Wahlnacht mit einer Souveränität herunter, die ihresgleichen sucht. Ein gut geölter Automatismus. Dann kommen die vielen Da-Silben und er horcht auf: “Moment, was ist das denn; kann das sein?“. Plötzlich ist er nicht mehr Kleists fechtender Bär, redet nicht allmählich verfertigend ins Blaue hinein. Das fein austarierte Verhältnis von Unterscheidbarkeit und Ununterscheidbarkeit, es wurde – wenn auch nur durch einen dummen Zufall – gestört. In solchen Fällen streikt der Automatismus, man redet bewusst und da das bewusste Sprechen dem Einfach-so-Daherreden unterlegen ist, muss man abbrechen und von Neuem beginnen.

So, jetzt weiß ich nicht mehr weiter. Ich hatte das alles hier einfach so dahergeschrieben und habe jetzt währenddessen festgestellt, dass das ja tatsächlich irgendwo Sinn ergibt. Ich muss mich jetzt erstmal sammeln und überlegen, wie es weitergehen kann. Vermutlich finde ich den Faden aber wohl nicht wieder. So ist das, wenn man Gedanken bewusst zu Papier bringen will. Vor allem, wenn man mehrmals hintereinander dasselbe schreibt. Wäre ich doch mal bei den einfacheren Dualismen geblieben. Katze–Hund zum Beispiel. Da muss man nicht lange überlegen. Es sei denn man ist aus China. Da heißen diese Tiere maomao und gougou.

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