Romanische Volkssprachen

1. Bewusstheit von romanischen Volkssprachen

Das Klassische Latein und die gesprochene Sprache entwickeln sich gegen Ende des römischen Reiches (476) auseinander.

Ab etwa 700 sprechen wir von romanischen Sprachen, die sich aus dem Vulgärlatein als der gesprochenen Form des Lateinischen in Rom und im römischen Reich, in Abhebung vom geschriebenen (literarischen) Latein und unter dem Einfluss von Substrat(en) und Superstrat(en) so nach und nach entwickelt haben.

 

In den Schriften der weniger aufmerksam Schreibenden häufen sich immer mehr vulgärlateinische Elemente. Trotzdem herrscht zunächst weiterhin das Bewusstsein vor, eine von der Struktur her grundsätzlich lateinische Sprache zu schreiben, auch wenn sich mit der Zeit die Struktur immer mehr nur noch oberflächlich über die Endungen zeigte (cf. Bruni 1984: 3).

Auch das geschriebene Latein wurde mit der Zeit nicht mehr überall gleich ausgesprochen, sondern die Aussprache war je nach Gegend verschieden. Dadurch wurde der Abstand zwischen der mündlich produzierten Form des Lateinischen und seiner schriftlichen Form immer größer. Schreiben lernen bedeutete also, "eine von der Sprechsprache stark abweichende Schriftform zu lernen" (Geckeler / Dietrich 1995: 176) (vgl. Französisch, Englisch heute). Am besten bewahrt wurde die klassische Aussprache durch Iren und Angelsachsen. Latein war schließlich für sie immer eine ganz fremde Sprache geblieben.

In der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts begann die Karolingische Reform, eine durch die Hinwendung zur Antike charakterisierte Erneuerungsbewegung. Diese Bewegung steht nach Geckeler und Dietrich (1995: 176-177) in engem Zusammenhang mit der schon bei Pippin beginnenden politischen Orientierung auf Rom und das Papsttum hin. Besiegelt wurde diese Hinwendung dann durch die Kaiserkrönung Karls des Großen in Rom.

Der Angelsachse Alkuin aus York bemühte sich nach Geckeler und Dietrich im Auftrag von Karl dem Großen um eine Wiederherstellung klassisch lateinischer Sprachkenntnisse und vor allem um eine klassische Aussprache des Lateins. Das Ziel war vor allem eine Hebung des "kläglichen Bildungsstandes der Geistlichen".

Auch auf Konzilen machte man sich Sorgen über die Ungebildetheit des niedrigen Klerus, der oft nicht in der Lage ist, die Sakramente zu verabreichen, die gewöhnlichsten Gebete zu sprechen, oder die 10 Gebote zu behalten. Als Gegenmittel werden Dekrete eingesetzt, die in katechistischer Form die wichtigsten Glaubenssätze ins Gedächtnis rufen.

Es entstehen eine ganze Reihe von Aufstellungen, die sich ohne Anspruch auf Originalität v.a. an den niedrigen Klerus wenden, der fähig ist, wenigstens etwas Latein zu lesen. Er soll dadurch in die Lage versetzt werden, der Masse der Laien die Regeln des christlichen Lebens zu vermitteln. So entstehen große enzyklopädische Abhandlungen und kleine Werke. Sie spielen zwar geistesgeschichtlich keine große Rolle, die Rolle, die sie mit Blick auf die kulturelle Homogenität des christlichen Westens spielten, ist aber nach Bruni (1984: 5) doch sehr groß. Denn in einer Zeit, in der sich Informationen langsam und mühevoll verbreiteten, herrschte dauernd die Gefahr, dass die sprachliche und geistige Einheit verfiel. Nicht von ungefähr spielt das Gleichnis vom Turmbau zu Babel in dieser Zeit eine so große Rolle.

Hier ein Auszug aus De vulgari eloquentia von Dante:

caput VII: de divisione sermonis in plures linguas

4. praesumpsit ergo in corde suo incurabilis homo, sub persuasione gigantis Nembroth, arte sua non solum superare naturam, sed etiam ipsum naturantem, qui Deus est, et coepit aedificare turrim in Sennaar, quae postea dicta est Babel, hoc est « confusio », per quam caelum sperabat ascendere, intendens inscius non aequare, sed suum superare factorem. 5. o sine mensura clementia caelestis imperii! quis patrum tot sustineret insultus a filio? sed exurgens, non hostili scutica, sed paterna et alias verberibus assueta, rebellantem filium pia correctione nec non memorabili castigavit.

6. [...] cum caelitus tanta confusione percussi sunt, ut, qui omnes una eademque loquela deserviebant ad opus, ab opere multis diversificati loquelis desinerent et numquam ad idem commercium convenirent. (Harsch, Ulrich: Bibliotheca Augustana).


4. Presunse dunque in cuor suo l'inguaribile uomo, con l'istigazione del gigante Nembròt, non solo di superare la natura, ma anche lo stesso creatore, che è Dio. Gli uomini cominciarono a costruire una torre a Sennar, che poi fu detta Babele, cioè "confusione", con la quale speravano di salire al cielo, con l'intenzione incosciente non di eguagliare, ma di superare il proprio Creatore. O smisurata clemenza del potere celeste! Quale padre avrebbe sopportato tanti insulti dal figlio? E come un padre levandosi con una sferza non ostile ma paterna e abituata altre volte a colpire, Iddio castigò il figlio ribelle con una pietosa e memorabile punizione.

6. [...] Furono colpiti da tanta confusione dall'alto del cielo che, mentre tutti si dedicavano all'impresa usando la stessa lingua, resi diversi da molte lingue lasciarono l'opera, e mai più si aggregarono per una intesa comune.

Zwar konnte die Karolingische Renaissance die Gefahr, dass die sprachliche und geistige Einheit des christlichen Westens verfiel, verringern, durch sie kam es aber auch indirekt zu einem Bruch zwischen der Volkssprache und der Sprache der Gelehrten und Kleriker, denn die Kluft zwischen der unterrichteten und geschriebenen Form des Lateins und den gesprochenen Formen des Lateins wird damit viel stärker. Gelesenes Latein (vgl. zum Beispiel Kirche) war jetzt nicht mehr verständlich (cf. Geckeler / Dietrich 1995: 177)

Daher wird man sich gerade in der Zeit um 800 der Verschiedenheit der beiden Sprachformen bewusst. Zum ersten Mal offiziell zur Kenntnis genommen wird diese Verschiedenheit im Konzil von Tours (813), wo die Priester angewiesen werden, die Predigten in Zukunft in der Volkssprache zu halten:

813 Reichskonzil von Tours

Absatz 17

Visum est unanimitati nostrae, ut quilibet episcopus habeat omelias continentes necessarias ammonitiones, quibus subiecti erudiantur, id est de fide catholica, prout capere possint, de perpetua retributione bonorum et aeterna damnatione malorum, de resurrectione quoque futura et ultimo iudicio et quibus operibus possit promereri beata vita quibusve excludi. Et ut easdem omelias quisque aperte transferre studeat in rusticam Romanam linguam aut Thiotiscam, quo facilius cuncti possint intellegere quae dicuntur.

In dieser Zeit entstehen dann die ersten Zeugnisse in der Volkssprache. Zunächst handelt es sich um Glossen, mit denen unverständliche lateinische Ausdrücke in Texten erklärt wurden (vgl. Reichenauer Glossen 8. / 9. Jh.). Dann entstehen auch ganze Texte in der Volkssprache, zunächst in Französisch, weil hier die lautliche Entwicklung zu einem großen Abstand zwischen der volkstümlichen und der gelehrten Lautung geführt hatte. In den anderen romanischen Sprachen, in denen die lautliche Entwicklung nicht zu so einem großen Abstand geführt hatte, dauert es länger, bis erste Sprachzeugnisse in der Volkssprache entstehen (cf. Geckeler / Dietrich 1995: 177).

1.1 Schreiben in romanischen Volgari

Wichtig ist, wenn es um die ersten Texte in der Volkssprache geht, ein Begriff, d. h. der Begriff volgare. So wie nämlich der Begriff Vulgärlatein heute nichts mit vulgär zu tun hat, so hat auch volgare nichts mit vulgär zu tun. Volgare meint nämlich die nicht-lateinische Volkssprache zu einer Zeit, als die Dachsprache oder Verkehrssprache noch das Latein war. Zur Erinnerung: Dante unterscheidet im 14. Jh. zwischen Latein, das er arte nennt, und vulgaris eloquentia, d. h. das Sprechen in der Volkssprache.

Der Begriff wird zumeist im Plural gebraucht, weil es in Italien damals viele verschiedene und nebeneinander bestehende volgari gibt:

In der Galloromania erscheint dafür der Begriff langues vulgaires, womit ebenfalls die verschiedenen Volkssprachen gemeint sind:

1.1.1 Die ersten Texte in der Volkssprache

Als erster sicher datierbarer und in einer romanischen Sprache geschriebener Text gelten Les serments de Strasbourg vom 14. Februar 842, die dem Französischen zugeordnet werden müssen.

In diesen Serments geht es um die Allianz, die die Enkel von Karl dem Großen (gest. 814) und Söhne von Ludwig dem Frommen (gest. 840), Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle gegen ihren älteren Bruder Lothar eingehen. Diese Allianz führt dann später, nämlich 843, zur Teilung des Reiches im Vertrag zu Verdun. Kaiser Lothar I. erhält das Mittelreich, Ludwig der Deutsche erhält das Ostfrankenreich, Karl II., der Kahle, erhält das Westfrankenreich.

Die Serments bestehen aus 4 Texten, 2 romanischsprachigen und 2 im Francique, einem rheinischen Dialekt.

Ludwig der Deutsche spricht seinen Schwur auf Altfranzösisch, damit die Soldaten seines Bruders, Charles le Chauve ihn verstehen. Charles le Chauve spricht seinen Schwur auf Althochdeutsch, damit die Soldaten von Ludwig dem Deutschen ihn verstehen. Die beiden Heere sprechen den Schwur jeweils in ihrer eigenen Sprache.

Die ersten literarischen Produktionen auf Altfranzösisch erscheinen schon kurz danach:

Die Troubadourlyrik erlebte im 12. Jahrhundert in Südfrankreich ihren Höhepunkt

Volkssprachliche italienische Elemente lassen sich in Texten erst etwas später feststellen. Ein Beispiel ist das

Ein Beispiel für den praktischen Gebrauch eines italienischen Volgare sind die

Einer der ersten Texte, die eindeutig als italienische Texte charakterisiert werden können, ist die:

Ansätze zu einer bescheidenen nicht-lateinischen Literatur haben wir in Italien dann allerdings erst Ende des 12. / Anfang des 13. Jahrhunderts. Aus dieser Zeit stammt das älteste uns überlieferte Literatur-"Denkmal" des Italienischen, das in der toskanischen Sprache geschrieben ist, d. h. der sogenannte Ritmo laurenziano (1180), bei dem es sich um eine höfische Gelegenheitsdichtung mit komisch-karikaturalem Einschlag handelt.

1225 oder 1226 entstand dann der Sonnengesang oder Cantico delle creature des Heiligen Francesco d'Assisi. Dieser Sonnengesang besteht aus 33 in rhytmischer Prosa verfassten Versen, die zu Laissen gegliedert sind. Er enthält umbrische und toskanische Elemente. Es erscheinen hier auch eine Reihe von Latinismen.

Die Anfänge der italienischen Literatur liegen also wesentlich später als die der provenzalischen und französischen Literatur. Die Troubadourlyrik erlebte ja bereits im 12. Jahrhundert in Südfrankreich ihren Höhepunkt. In französischer Sprache gab es, wie wir gesehen haben, bereits im 12. Jahrhundert eine reiche epische Literatur und die Anfänge der Chanson de geste lassen sich gar bis ins 10. und 11. Jahrhundert zurückverfolgen.

1.1.2 Die Herausbildung der Standardsprache in Frankreich

Auch wichtige Entscheidungen über die Beschaffenheit des Standardfranzösischen fielen bereits im 12. u. 13. Jahrhundert.

Unter Standardsprache wird eine weitgehend normierte und institutionalisierte Varietät einer historischen Einzelsprache verstanden, die von der betreffenden Sprachgemeinschaft zur überregionalen Kommunikation verwendet wird. Eine solche Standardsprache kann historisch gewachsen sein oder durch einen bewussten Akt sprachlicher Schöpfung durch Einzelpersonen oder Institutionen in wenigen Jahren geschaffen werden. Durch ihre kommunikative Reichweite und durch ihr Prestige ist eine Standardsprache den anderen diatopischen und diastratischen Varietäten übergeordnet.

Was nun die Herausbildung des Standardfranzösischen angeht, so ist erst einmal wichtig, dass Paris unter Philippe II. August (1180-1223) zur üblichen Residenz der Könige wird. Das Francei / françois als Sprache des Pariser Beckens erlangte dadurch mit der Zeit ein Übergewicht gegenüber anderen Dialekten und setzte sich allmählich als Kanzlei- und Literatursprache durch.

Auch das Kloster Saint-Denis spielt dabei eine besondere Rolle. Seit dem 11. Jahrhundert war es nämlich der Aufbewahrungsort der Reliquien des Nationalheiligen Dionysius und ab dem 12. Jahrhundert Grabstätte der französischen Könige. So wurde es zum religiösen Mittelpunkt Frankreichs.

Im 13. Jahrhundert festigte sich die Macht des kapetingischen Königshauses, Paris wuchs beträchtlich an. Die Bevölkerung von Paris und Umland wusste um das höhere Prestige ihrer Sprache und die SprecherInnen anderer Varietäten erkannten die Vorbildlichkeit und Nachahmenswertigkeit der langue d'oïl, d. h. der Sprachform der France, was zuerst nur das Kerngebiet des kapetingischen Königreichs meint.

Im 12. und 13. Jahrhundert war der literarische Rang des Normannischen und Pikardischen, des Champagnischen und Orleanesischen noch weit bedeutender als der des Franzischen gewesen. Auch ist das Franzische erst in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts in Dokumenten belegt. Trotzdem versuchten mit der Zeit immer mehr Dichter auf franceis / françois zu schreiben, auch wenn sie aus den Gebieten anderer langues vulgaires stammten. Hinzu kommt die sprachliche Mittelstellung des Franzischen gegenüber den anderen altfranzösischen Dialekten.

Das Franzische selbst durchdringt nach und nach die regionalen Schriftsprachen: Mitte des 13. Jh. durchdringt es zunächst das Champagnische, zu Beginn des 14. Jh. das Normannische u. Orleanesische, sowie die Skriptae des Poitou und Berry, im 15. Jh. dann das Pikardische und Lothringische. Diese allmähliche Vereinheitlichung der Schriftsprache brachte implizite Normen hervor.

Nach dem Ende des Hundertjährigen Kriegs (1339-1453) bildete sich ein französisches Nationalbewusstsein heraus. Während der Regierungszeit von Ludwig XI. (1461-1483) gerieten die meisten großen Lehen in den Besitz der Krone. Seither bezieht sich die Bezeichnung France nun auf das ganze Reich und nicht mehr nur auf das Stammland der Kapetinger. Um sich auf das Stammland der Kapetinger beziehen zu können, musste France mit einem Zusatz versehen werden: Ile-de-France. Die Sprachbezeichnung françois wurde verallgemeinert. Im 15. Jahrhundert war damit dann die Sprache der gesamten Nordhälfte Frankreichs gemeint. Das Franzische war also zum Französischen geworden.

Im 14. und 15. Jahrhundert festigte das Französische also seine Rolle als überregionale Schriftsprache, es drängte die übrigen nordfranzösischen Schriftsprachen, das Okzitanische und das Latein zurück und wurde immer häufiger in wissenschaftlichen und technischen Texten verwendet. Zudem setzte es sich als Verwaltungssprache durch, die von einem zentralistsich ausgerichteten, straff organisierten Beamtenapparat in alle Teile des Königreiches getragen wird. Viele Werke klassischer Autoren wurden aus dem Latein ins Französische übersetzt (vgl. Meigret). Der Buchdruck - hierzu mehr später - kommt dann ebenfalls der französischen Schriftsprache zugute, denn er legt eine Vereinheitlichung nahe. Es gibt erste Vorzeichen für eine implizite Normierung. Die Graphie bleibt aber hinter der Lautentwicklung zurück (cf. Winckelmann 1990).

1.1.3 Die Anfänge der italienischen Literatur

Während in Frankreich im 13. Jahrhundert die Sprache der Könige, das Franzische, die anderen Regionalsprachen so nach und nach verdrängt und immer mehr zur überregionalen Schriftsprache wird, gibt es in Italien weder ein Zentrum wie Paris, noch eine Zentralmacht wie den französischen König. Das Land gehörte teils zum Römisch-Deutschen Kaiserreich, der Kirchenstaat nahm einen beträchtlichen Teil des Landes ein und schnitt den Norden vom Süden ab.

Heinrich VI., der 1194 zum König von Sizilien in Palermo gekrönt worden war, hatte eigentlich vor, Sizilien mit dem Deutschen Reich zu vereinigen, er starb aber vorher. Nach dem Tod von Konstanze 1198, der Witwe von Heinrich VI., die für Friedrich den II. die Regentschaft übernommen hatte, wird Papst Innozenz III. der Vormund von Friedrich II. und damit Herrscher eines Weltreiches:

1220 wird Friedrich II schließlich zum Kaiser gekrönt. Eine seiner wichtigsten Residenzen war die von Palermo:

An diesem Hof in Palermo enstand die erste bedeutende Literaturtradition Italiens. Sie war dem Vorbild der provenzalischen Lyrik verpflichtet, verwendete aber das Sizilianische. Es handelt sich dabei um die Scuola siciliana. Damit entstand eine erste italienische Schriftsprache. Auch die am Hof lebenden toskanischen Dichter verwenden dieses entdialektalisierte Sizilianisch.

In der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts liegt dann die Überlieferung der Scuola siciliana in toskanischen Händen. Als nämlich die literarische Produktion der poeti siciliani bald nach dem Zerfall der hohenstaufischen Herrschaft (1268) abbricht, stellen gerade die toskanischen Dichter das Bindeglied zwischen den poeti siciliani und dem von Bologna ausgehenden dolce stil nuovo dar, dessen Liebeslyrik gegen Ende des 13. Jahrhunderts in der Toskana zur Blüte gelangte (Guido Guinizelli 1230?-1276; Guido Cavalcanti 1259?-1300).

Nicht Florenz aber, sondern die westliche Toskana mit Pisa, Lucca und Volterra nahm damals bei der Verbreitung der geschriebenen Volkssprache, des Volgare scritto, eine Vorrangstellung ein. Diese Gegend spielte entsprechend ihrer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung auch schon im 11. und 12. Jahrhundert bei der Produktion nicht-lateinischer Texte eine Hauptrolle. So ist ein Großteil der ältesten erhaltenen Dokumente der Volkssprache in pisanischer Sprache abgefaßt. Pisanisch ist auch der erste Text im Volgare toscano, d.h. der Conto navale pisano vom Anfang des 12. Jahrhunderts. Im 13. Jahrhundert entwickeln sich Pisa, Lucca und Arezzo dann zu kulturellen Zentren, in denen die Tradition der Scuola siciliana fortgeführt wird. Wir sprechen deshalb von einer letteratura siculo-toscana. Wichtige Vertreter sind u.a. Bonagiunta Orbicciani (Lucca), Inghilfredi (Lucca), Guittone d'Arezzo.

Der älteste überlieferte Beleg des Volgare fiorentino stammt dagegen erst aus dem Jahre 1211. Es handelt sich um die frammenti d'un libro di conti di banchieri fiorentini.

Im 13. Jahrhundert wächst dann aber auch die politische Bedeutung von Florenz und Siena und je mehr deren Bedeutung wächst, desto mehr verstärkt sich ab Mitte des 13. Jahrhunderts auch dort der Gebrauch des Volgare bei der Abfassung schriftlicher Texte, d.h. sowohl bei der Erstellung von Urkunden als auch im literarischen Bereich.

Natürlich gibt es auch in Florenz wichtige Dichter, doch zum eigentlichen Durchbruch kommt es erst, als Florenz den dolce stil nuovo übernimmt, eine Tradition, die wie gesagt von Bologna ausging. Florenz wird jetzt zum führenden kulturellen und literarischen Zentrum.

1265 wird dann Dante Alighieri (1265-1321) geboren. Er lebt bis 1321 und bekommt als junger Mann mit, wie in Florenz das Volgare auf allen Ebenen praktiziert wird.

Bei der Herausbildung der italienischen Schrift- und Literatursprache kommt Dante höchste Bedeutung zu. Dante schreibt schließlich seine Commedia (1307/16) im Volgare und zwar in einem toskanischen Volgare. Da die toskanischen Volgari dem Latein sprachlich sehr nahe standen, konnten alle, die Latein konnten, auch die Commedia verstehen und durch die Verbreitung dieses Werkes wurde auch das florentinische Volgare überall bekannt.

Im 14. Jahrhundert war es dann Giovanni Boccaccio (1313-1375) im Bereich der Prosa, v.a. mit seinem Decamerone, und Francesco Petrarca (1304-1374) im Bereich der Dichtung mit seinem Canzoniere, die dem Toskanischen als Schriftsprache Geltung verschafften.

Das Werk dieser Tre Corone wurde zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert vor allem von toskanischen Bank- und Kaufleuten verbreitet, ihrer Sprache bedienten sich große florentinische Politiker, Päpste und Schriftsteller, so etwa Niccolò Machiavelli oder Francesco Gucciardini.

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurde das Florentinische dann nicht mehr als Volgare betrachtet, sondern war zur Schrift- und Literatursprache geworden, der sich die Gebildeten auch als Verkehrssprache bedienten.

 
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