Die Drucker und die Normierung der Volkssprachen

1. Einleitung

Die Drucker sind die ersten, die sich nicht nur implizit oder explizit mit Fragen der Orthographie beschäftigen, sondern auch in aller Deutlichkeit Normierungsvorschläge vorbringen. Sie haben schließlich reale wirtschaftliche Interessen an einer Uniformierung und damit an einem Produkt, das nicht nur in einer bestimmten Gegend seinen Absatz findet, sondern überall verkauft werden kann. Ihre Reformvorschläge gehen denen der Grammatiker letztendlich voraus. Ihre Aktivitäten zeigen also besonders deutlich den Zusammenhang zwischen einer bestimmten Technologie und der Sprachnormierung.

2. Geofroy Tory 1480-1533 (z.T. auch Geoffroy geschrieben)

Der in Bourges geborene Humanist Geofroy Tory war nicht nur Drucker, Typograph und Korrektor (bei den Estienne, Gilles de Gourmont, Simon de Colines, etc.) in Paris, sondern auch ein gelehrter Philologe, Grammatiker und Dialektologe. Nach einem Studium in Italien (1505-1506) wurde er Professor in Paris und Herausgeber bei Henri Estienne. Er fing an zu malen und zu gravieren. 1516-1518 kehrte er nach Italien zurück, um sich dort weiterzubilden. Von dort brachte er von Salutati, Alberti und Trissino für die Kalligraphie und von Aldus und Bembo für den Druck erstellte Zeichnungen für die «litera rotonda antica» mit. Letztere ersetzte schon schnell die französischen und von der gotischen Schrift inspirierten Lettern. Tory arbeitete auch als Buchbinder und produzierte sehr schöne Initialen, Ränder und Illustrationen sowie sein berühmtes Buchzeichen (zerbrochener Topf) und das von Robert Estienne (Olivenbaum). Er bildete Generationen von Graveuren aus, darunter Garamont und Granjon. 1525 erschien sein Stundenbuch, das ein von den Handschriften unabhängiges Typen-Design einführte und das Entwerfen von Büchern in Frankreich zu einer Kunst machte (vgl. auch die Beschreibung zu "Digital Horae" und das Online-Projekt). Sein Beitrag zur Etablierung eines hochwertigen Buchdrucks in Frankreich wurde mit seiner Ernennung zum königlichen Drucker von François I anerkannt.

2.1 Le Champ Fleury

1529 erscheint sein Champfleury, « Auquel est contenu Lart & Science de la deue & vraye Proportiõ des Lettres Attiques, quõ dit autremēt Lettres Anti­ques, & vulgairement Lettres Romaines proportionnees selon le Corps & Visage humain, d.h. wo er die seinem Design der Antiqua-Majuskeln zugrundeliegende Theorie erklärt. Bei Tory werden die Buchstaben als Gegenstand betrachtet und die Lettern werden zu architektonischen Konstrukten. Nach Catach (2001: 106) legt Tory mit diesem Werk den Grundstein für den graphischen und typographischen Erfolg der Renaissance.

Vorlage für diesen Champ-Fleury Stil ist zum einen Luca Paccioli, der in seinem De Divina Proportione (1509) versuchte, eine Schrift zu entwickeln, indem er im Stil der Zeichnungen von Leonardo da Vinci die Proportionen des menschlichen Körpers auf geometrische Formen reduzierte. Zum anderen waren es die Zeichnungen von Leonardo da Vinci, den Tory selbst brennend verehrte, und die Zeichnungen von Dürer. Mit Tory und der großen Wirkung, die sein Werk auf den Buchdruck hatte, hat sich das Zentrum der Schriftartenentwicklung von Italien nach Frankreich verlegt.

Le Champ fleury wurde 1524 konzipiert und 1526 fertiggestellt. Gedruckt wurde es 1529 von Gilles de Gourmont in einer Antiqua-Schrift.

Tory beklagt sich in diesem Werk auch über die schlechte Qualität der französischen Drucke, plädiert unter anderem mit dem Argument der besseren Wahrnehmbarkeit für die Antiquabuchstaben und für eine bestimmte Formatierung der bedruckten Seiten und verlangt, dass ein System von Akzenten, Hilfszeichen, Cedille und Satzzeichen aufgestellt wird.

Im Champfleury (vgl. Seitenbeispiel) wird all das allerdings nicht beachtet: es gibt viel zu viele Majuskeln, die Zeilenziehung ist schlecht, Abkürzungen erscheinen statt den Nasalen, Zeichensetzung und Apostrophe fehlen. Die Orthographie unterscheidet sich insgesamt auch nicht von der der Kopisten.

Tory kommt trotzdem das Verdienst zu, als erster den Accent aïgu, den Apostroph und die Cedille eingeführt zu haben. Es wird behauptet, er habe diese von den Druckern spanischer Texte in Toulouse übernommen.

2.2 Normierung der Sprache

Im Champfleury geht es aber nicht nur um die graphische Gestaltung der Lettern und die äußere Form der Texte, sondern Tory ruft hier auch ausdrücklich zur Normierung des Französischen auf und macht diesbezüglich konkrete Vorschläge. Das hat natürlich gerade auch mit den Bedürfnissen der gedruckten Ausgaben zu tun. Das Problem mit der Aussprache zahlreicher Vokale aufgrund der Lautentwicklung gab es zwar auch schon vorher, vor allem in der Dichtung, der Buchdruck verstärkt nun aber dieses Problem.

Dass es Tory in seinem Werk um Normierung geht, wird gleich zu Beginn gesagt:

Ce tontal Oeuure / est diuise en Trois Liures

Au Premier Liure / est contenue Lexhortation a mettre & ordonner la Lãgue Francoise par certaines Reigle de parler elegãment en bon & plussain Langage Francois. (A.I. v o)

denn sonst würde das Französische aufgrund einer zu schnellen Entwicklung untergehen:

[...] Sil ny est mys & ordonne on trouvera que de Cinquante Ans en Cinquante Ans la La [sic] langue Francoise, pour la plus grande part, sera changee & peruertie

Ganz ähnlich steht es auch bei Nebrija, doch spricht er nicht von 50, sondern von 500 Jahren.

Tory tritt für den Gebrauch des Französischen statt des Lateins ein. Wie er selbst sagt, ist er stolz darauf, der erste zu sein, der das macht:

DOoncques Iescripray en Francois selõ mõ petit stile & langage maternel (F 1 ; I v o)

IE sembleray cy par auãture estre nouuel hõme, pource quon ma point encores veu ēseigner par escript en lãgage Frãcois la facõ & qualite des Lettres, mais desirant enluminer aucunement nostre langue, ie suis content estre le premier petit indice a exciter quelque noble esprit qui se euertura dauantage, [...](F 1 ; I v o)

Es geht Tory aber nicht nur um die Graphie, sondern er legt auch grammatische Regeln fest:

SI auec nostre facundite, estoit Reigle certaine, Il me semble soubz correction, que le langage seroit plus riche, & plus parfaict. Et a ce .ppos pource quil men souuient, & que je puisse bailler quelque bõne raison que Reigle se y pourroit tenir, pource que ie voy communement mains persõnages tãt scauans que non scauans y faillir & commettre Barbarisme, & langage inepte, je dis que pour les preterits parfaictes on peut assigner telle Reigle & dire. (F 1 ; III r o)

Er rechtfertigt seinen Aufruft zur Normierung nicht zuletzt auch damit, dass eine normierte Sprache mehr zur Macht beiträgt als der Krieg:

[...] les Romains qui ont eu domination sus la plusgrande partie du mõde, ont plus prospere, & plus obtenu de victoires par leur langue que par leur lance. Pleust a Dieu que peussions ainsi faire, non pas pour estre Tyrans & Roys sus tous, mais en ayant nostre laugue bien reiglee, peussions rediger & mettre bonnes Sciences & Arts en memoire & par escript. (F 1 ; IV v o)

Es ist nach Tory auch nicht schwieriger das Französische, das mehrere Dialekte kennt, zu normieren als das Griechische, denn auch bei den Griechen gab es fünf Dialekte, die sich voneinander auf allen Ebenen unterschieden. Was das Französische betrifft, so nennt er die folgenden Dialekte:

la langue de Court & Parrhisiene, la langue Picarde, la Lionnoise, la Lymosine, la Prouuensalle (F 1, V r o).

Dass er schließlich der Sprache von Paris den Vorzug gibt, zeigt seine Lobrede auf Paris, die wie folgt beginnt :

Paris est vne admirable maison Royalle, [...] (F 1; VI r o-v o).

Er tritt auch für den Gebrauch des Französischen in den Bereichen der Wissenschaft und Kunst ein, so im Folgenden, wo er die Hoffnung ausspricht, dass auch die Autoren bald auf Französisch schreiben:

Nous nauons point ancores veu de tel Autheur en langage Francois, Pleust a Dieu que beaucop daultres feissent ainsi, non pas pour contemner les Langues Hebraique, Cre q [die Tilde über dem q ässt sich nicht darstellen], & Latine, mais pour cheminer plus seurement en sa voye domestique, Cest a dire, escripre en Francois, comme Francois que nous sommes. (F 2, XII.r o)

Und so geht das etwa eine ganze Seite weiter:

Il me semble soubz correctiõ quil seroit plusbeau a vng Francois escripre en francois quen autre langage, tant pour la seurete de son dict langage Francois, que pour decorer sa Nation & enrichir sa langue domestique, qui est aussi belle & bõne que vne autre, quãt elle est biē couchee par escript. (F 2, XII r o)

Tory führt wie schon gesagt, die Cedille ein. Hier seine Argumentation:

C deuant O, en pronunciation & langage Francois, aucunesfois est solide, cõme en disant Coquin, coquard, coq, coquillard. Aucunesfois est exile, comme en disant Garcon, macon, facon, francois, & aultres semblables (F 3; XXXVII v o)

AVlcuns designent & font le C. comme si cestoit le O. coupe par la pãse de la main droicte sans lentre ouuir, mais comme ien ay veu en Rõme de bien Antique, ie lentreouure par embas, en luy rendant une queue subtile qui luy donne grace et esperit. (F 3; XXXVII v o)

Im Folgenden geht es um die Akzente:

En nostre langage Francois nauons point daccents figure en escripture, & ce pour le default que nostre langue nest encores mise ne ordonnee a certaines Reigles comme les Hebraique, Greque, et Latine. Ie vouldrois quelle y fust ainsi que on le porroit bien faire (F 3; LII r o)

Tory wendet sich auch gegen Latinismen, Jargonwörter, regionale Varianten und Neologismen jeglicher Art, die den honneste Langage seiner Meinung nach deformieren und korrumpierten. Tory fordert also ausdrücklich einen regulativen Eingriff.

Insgesamt zeigt sich bei Tory die Einheit von beruflich-ökonomischen, sowie sprachlich-kulturellen humanistischen Interessen. Vielleicht war das ja bei Nebrija auch so. Dass die Textherstellung mit dem Buchdruck insgesamt zu einem ökonomischen Phänomen wird, zeigt auch die folgende Aussage von Bouchet, mit der er sich an die Drucker wendet.

Ayez tousiours de bons compositeurs
Lettrez assez, & de bons correcteurs,
N’y espargnez argent, quoy qu’õ vo trouble
Vous y aurez a la fin gaing au double.


3. Manuzio - Bembo

Kommen wir nun zu Italien. Zum Zentrum des Buchdrucks in Italien wurde wie gesagt Venedig. Zu verdanken ist das nicht zuletzt Aldus Manuzio und Pietro Bembo. Ihr Nebeneinander und ihre Zusammenarbeit haben in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts zu einer ganz neuen Situation geführt, die auf die weitere Entwicklung der Volgari, von denen es ja damals in Italien eine ganze Menge gab, und auf die Normierung der Sprache einen starken Einfluß haben sollte.

Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass der Buchdruck eine v.a. ökonomische Angelegenheit war und die ersten Drucker v.a. schneller bessere und billigere Kopien von Manuskripten herstellen wollten. Da sie diese verkaufen wollten, musste es sich um Texte handeln, für die es eine große Nachfrage gab. Eine solche bestand in Italien zu dieser Zeit gerade hinsichtlich klassisch lateinischer und auch griechischer Texte (vgl. den Humanismus). In Italien gab es aber zu dieser Zeit, im Unterschied zu anderen romanisch sprachigen Ländern, darüber hinaus auch schon einen hoch geschätzten volkssprachlichen Kanon, nämlich die Werke der sogenannten Tre Corone. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn die Drucker schon bald versuchten, die volkssprachlichen Bestseller für ihre ökonomischen Zwecke zu nutzen.

3.1 Die Commedia von Dante

Der größte Bestseller unter den volkssprachlichen Werken war, wie es schient, die Commedia von Dante. Schließlich haben von diesem Text 600 allein im 14. Jahrhundert hergestellte Manuskripte überlebt. Kein Wunder also, dass die Commedia einer der ersten Texte war, der von den Druckern aufgegriffen und gedruckt wurde. Die erste gedruckte Version dieses Werkes wurde, wie schon gesagt, 1472 von Johann Neumeister in Foligno hergestellt und zwar in einer für damalige Verhältnisse übergroßen Auflage von 1200 Exemplaren.

Allein die große Nachfrage nach diesem Werk kann auch erklären, dass schon innerhalb weniger Monate zwei weitere gedruckte Ausgaben davon erschienen, und zwar in Venedig und Mantua. Da letztere jeweils auf wieder einem anderen Manuskript (es gab schließlich 600 solcher Manuskripte) basierten, lagen innerhalb kürzester Zeit also drei unterschiedliche Druckversionen der Commedia vor. Weitere Ausgaben folgten schon kurz danach. Eine allgemein anerkannte Ausgabe etablierte sich damit aber noch nicht, obwohl die beiden neapolitanischen Ausgaben auf ein und derselben Ausgabe basierten, nämlich der von Foligno. Wie die folgende Liste zeigt, erschienen alle ersten gedruckten Ausgaben des Werkes außerhalb von Florenz:

1472 Foligno

1472 Venedig

1472 Mantua

1477 Neapel (Vorlage ist die Ausgabe von Foligno)

1478-1479 Neapel (Vorlage ist die Ausgabe von Foligno)

1477 Venedig

1478 Mailand

Das beweist natürlich, dass Dante längst nicht mehr nur den Status eines Autors aus einer bestimmten Region (der Toskana) oder einer bestimmten Stadt (Florenz) inne hatte, sondern als italienischer Klassiker aufgefasst wurde. Dies aber ärgerte gerade die Florentiner, die Dante als ihren eigenen Autor betrachteten.

Eine Antwort auf die Provokation, die die nicht florentinischen Inkunabeln und das Begreifen von Dante als italienischem Klassiker für die Florentiner darstellten, gab der Drucker Nicolo di Lorenzo della Magna, als er 1481 die erste florentinische Ausgabe zusammen mit einem Kommentar von Cristoforo Landino, einem damals überaus bekannten und in Florenz lehrenden Literaturkritiker, herausgab. In diesem Kommentar reklamiert Landino, sozusagen am Abend vor dem Krieg von Florenz mit Neapel und Mailand, in recht nationalistischer Manier Dante als ureigensten Dichter der Florentiner.

Die florentinische Ausgabe wird wohl auch wegen des modernen Kommentars von Landino in den nächsten Jahren zur allgemein anerkannten Version, d.h. zur Vulgata. Auf ihr basieren eine ganze Reihe der in der Folge gedruckten Werke. Die Funktion einer Vulgata behält sie so lange, bis 1502 in Venedig bei Aldus Manutius die sogenannte Aldine erscheint, d.h. die von Pietro Bembo erarbeitete Fassung der Commedia. Diese Aldine verdrängt die florentinische Ausgabe total und wird für die nächsten 300 Jahre zur allgemein akzeptierten Ausgabe.

Der Text der Aldine war von dem der florentinischen Vulgata total verschieden. Erstens hatte Bembo in die Vorbereitung seiner Ausgabe ein bisher nicht nur bei der Herausgabe von Texten im Volgare, sondern auch bei der Herausgabe von lateinischen Texten ungewöhnlich hohes Maß an philologischer Arbeit gesteckt. Dieser Arbeit sind auch die folgenden Änderungen zu verdanken: Zum ersten Mal werden die Abkürzungen im Text aufgelöst und die Wörter nach grammatischen Kriterien durch Spazien getrennt. Zudem griff Bembo ausgiebig auf die Zeichensetzung zurück und vereinheitlichte die Verwendung des Apostrophs sowie der Akzente.

Zum Zweiten hat Bembo seiner Ausgabe nicht die fehlerhafte florentinische Vulgata von Florenz zugrundelegte, sondern ein anerkanntes Manuskript aus dem 14. Jahrhundert, das Boccaccio einmal Petrarca geschenkt hatte und das sich in der Bibliothek von Bembos Vater, Bernardo Bembo, befand. Pietro Bembo schrieb den ganzen Text eigenhändig ab und legte die Kopie dann Aldus Manutius zum Druck vor.

Durch seine Arbeit an diesem Text legte Bembo die zu Dantes Zeit (14. Jahrhundert) gebrauchte Sprache frei. Dadurch tauchte das Gedicht zum ersten Mal seit mehr als 120 Jahren wieder in seiner ursprünglichen Form aus einem Meer von exegetischen Kommentaren auf. Dies hatte allerdings auch zur Folge, dass der Abstand zwischen Dante und den rhetorischen Vorlieben der Hochrenaissance deutlich wurde. Das Idol der Hochrenaissance war nämlich eher die städtische und psychologisch raffiniertere Poesie eines Petrarcas und nicht so sehr der religiöse Eifer und der unorthodoxe Stil eines Dante. Das Bewusstwerden dieses Abstands erklärt insgesamt, warum mit Bembos Aldine letztendlich auch die Marginalisierung des Werks von Dante innerhalb des literarischen Kanons Italiens begann.

Festzuhalten bleibt insgesamt, dass mit der gemeinsamen Veröffentlichung der volkssprachlichen Klassiker, d.h. dem Canzoniere von Petrarca - Bembo hatte ja schon vor der Commedia für Aldus Manutius eine einflussreiche Ausgabe von Petrarcas Canzoniere vorbereitet, die 1501 gedruckt wurde - und der Commedia von Dante durch Bembo und Manutius der Grundstein für die Erkenntnis gelegt wurde, dass es in Italien nicht nur eine eigenständige literarische Tradition in der Volkssprache gab, sondern diese auch nicht weniger wert war, als die von den Humanisten idealisierte griechische und lateinische Tradition. Damit stand einer Kanonisierung der volkssprachlichen Werke und der Erhebung der Sprache der Klassiker zum Modell nichts mehr im Wege.

3.2 Questione della lingua

Die Veröffentlichung der Commedia durch Manutius und Bembo bedeutet aber gleichzeitig auch die Wiederaufnahme der im 15. Jahrhundert durch die nicht-toskanischen Inkunabeln verursachte Provokation, die seinerzeit mit der florentinischen Ausgabe der Commedia und dem Kommentar von Landino beantwortet worden war. Bembo, der venezianische Patrizier, und Manutius, der in Venedig ansässige Drucker, maßten es sich schließlich an, den Florentinern mit dieser Ausgabe etwas über ihre eigene volkssprachliche Klassik und über ihre eigene Volkssprache beizubringen. Es ist also kein Wunder, wenn in diesem Zusammenhang die sogenannte Questione della lingua explodierte, d.h. die Kontroverse zwischen Florenz und anderen italienischen Zentren, bei der es um das richtige sprachliche und rhetorische Modell für die Literatur ging.

Mit dem Buchdruck hatte sich ja schon der Ort verschoben, an dem die Ausarbeitung eines Modells stattfand, d.h. maßgeblich für das Modell war jetzt nicht mehr der Hof als Ort des praktischen Umgangs mit der Mündlichkeit und Schriftlichkeit, sondern das Buch, wo allein die schriftliche Sprache regierte. Und dass mit dem Druck der volkssprachlichen Klassiker durch zwei so herausragende venezianische Persönlichkeiten und der Erhebung dieser Ausgaben zum Modell zugleich auch die Erhebung einer bestimmten Sprache zum Modell verbunden war, das haben die Kontrahenten sehr wohl verstanden. Und Bembo sicher an erster Stelle.

Für Bembo stellte ja schließlich die Herausgabe der volkssprachlichen Klassiker den Ausgangspunkt für seine praktischen und polemischen Bemühungen um die Förderung einer ganz bestimmten literarischen Tradition in der Volkssprache und um ein ganz bestimmtes sprachliches Modell dar. Diese Bemühungen mündeten, wie bekannt sein dürfte, in den Prose della volgar lingua, die 1525 im Druck erschienen. In diesem aus drei Büchern bestehenden Werk bringt Bembo seine sprachlichen und rhetorischen Vorstellungen zum Ausdruck und erklärt, unter Anlehnung an die von den Humanisten hinsichtlich des Lateins aufgestellten Modelle, Virgil und Cicero, Petrarcas volkssprachliche Werke zum Modell für die Dichtkunst und Boccaccio zum Modell der volkssprachlichen Prosa.

Ohne den Buchdruck hätte sich aber dieses volkssprachliche Modell insgesamt nicht oder wenigstens nicht so schnell durchsetzen können. Zwar war für die Drucker und Korrektoren das Florentinische durch ihre Arbeit an den vielen Ausgaben der volkssprachlichen Werke von Dante und Petrarca schon vor dem Erscheinen von Bembos Prose zu einer Art von Berufssprache, zu einer „lingua di mestiere“ (cf. Trifone 1993: 446), geworden und hatten die Korrektoren, wie wir gesehen haben, innerhalb ein und desselben Textes Normalisierungen vorgenommen, doch seine endgültige Festschreibung erfuhr das Modell erst mit den Prose della volgar lingua von Bembo, die selbst wieder vom Buchdruck profitierten.

Ohne den Buchdruck und die praktische Umsetzung des Modells durch die venezianischen Drucker nämlich hätte sich auch Bembo nicht durchsetzen können. Die Drucker waren es schließlich, die Bembos grammatische Norm propagierten, indem sie sie mit Blick auf den nationalen Markt der Überarbeitung der Texte in der Volkssprache durch die Korrektoren zugrundelegten. Die damit dem Modell von Seiten der Druckindustrie zukommende Anerkennung führte letztendlich auch dazu, dass Lexikographen und Grammatiker auf den durch die Veröffentlichung der Prose in Bewegung gesetzten Zug aufsprangen bzw. ihre ursprünglich eingenommene Perspektive aufgaben und sich an dem von Bembo vertretenen und durch die Drucker verbreiteten Modell orientierten. Dass sie das tun, zeigen nicht nur Aussagen wie die folgende:

Di molto nome in nostra età è nel studio di lettere la dottrina et giudicio del nobile Messer Pietro Bembo, li cui facondi et ornati ragionamenti volgari sopra la thosca lingua poco avanti in luce usciti, dilettatione grandissima possono addurre agli uomini seguitanti la dirittezza natia dell'isioma thoscano.

Zu unserer Zeit hat im Bereich des Studiums der Texte die Lehre und das Urteil des noblen Meisters Pietro Bembo einen großen Namen, dessen fruchtbare und elegante Ausführungen im Volgare zur Toskanischen Sprache vor kurzem erschienen sind und zur großen Freude / Bereicherung der Männer gereichen können, die der angeborenen Rechtschaffenheit der toskanischen Sprache folgen.

sondern auch die Titel der im Folgenden aufgeführten grammatischen oder lexikographischen Werke:

Niccolò Liburnio (1526): Le tre fontane di Messer Nicolò Liburnio in tre libri divise, sopra la grammatica, et eloquenza di Dante, Petrarcha et Boccaccio. Venedig. Liburnio hatte vor diesem Wörterbuch schon die Abhandlung Le vulgari elegantie (1521) veröffentlicht, in der er nicht nur Dante, Petrarca und Boccaccio als sprachliche Modelle bezeichnete, sondern auch die modernen florentinischen und toskanischen Autoren.

Lucilio Minerbi (1535): Il Decamerone di M. Giovanni Boccaccio col Vocabolario di M. Lucilio Minerbi nuovamente stampato et con somma diligen­tia ridotto. Venedig.

Francesco del Bailo, genannt l'Alunno (1539): Osservationi sopra il Petrarca. Venedig.

Francesco del Bailo, genannt l'Alunno (1543): Le ricchezze della lingua volgare sopra il Boccaccio. Venedig.

Eine weitere Förderung erhält das Modell durch die Masse der Mitte des 16. Jahrhunderts entstehenden praktischen Hilfsmitteln zum Erlernen eben dieses modellhaften literarischen Volgare bzw. zum Verbessern der schon vorhandenen Kenntnisse.

In Italien geht es also in der Anfangszeit des Buchdrucks nicht wie noch bei Alberti, der sich in seiner Grammatik auf die lingua d’uso von Florenz bezog, und im Unterschied zu Spanien und Frankreich nicht so sehr um die Wahl einer bestimmten regionalen Varietät bzw. der Explizierung und Fixierung der ihr inhärenten Regelmäßigkeiten, sondern um die Wahl und Fixierung eines literarischen Modells, das eigentlich nur zufällig mit dem Florentinischen verbunden ist. In Italien gab es schließlich, im Unterschied zu Spanien und Frankreich kein Zentrum, das zur politischen und sprachlichen Hegemonie fähig gewesen wäre.

Dass dabei die Commedia von Dante eine herausragende Rolle spielte, ist der Tatsache zu verdanken, dass sie damals einer der größten Bestseller war und dass die Drucker den damit verbundenen ökonomischen Wert verstanden. Als dann mit der Ausgabe von Bembo und Manutius ein von den intellektuellen Autoritäten außerhalb von Florenz anerkanntes Exemplar dieses Werkes vorlag, stand der Herausbildung einer nationalen literarischen Identität über die Kanonisierung der volkssprachlichen Klassiker insgesamt nichts mehr im Wege. Dabei verläuft der Prozess in etwa parallel zu dem Prozess, der zur Annahme des florentinischen Volgare als Literatursprache und der von Bembo propagierten Norm auf der ganzen Halbinsel und somit zur Reduzierung der Regionalsprachen auf Dialekte führte. Das ursprüngliche Modell, das auch in der Toskana nie allein auf der Schriftlichkeit, sondern auch auf der Mündlichkeit basierte (vgl. Alberti), wurde so durch ein rein schriftsprachliches Modell ersetzt.

 
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