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Priv.-Doz'in Dr. Elisabeth Burr
Fakultät 2 / Romanistik
Gerhard-Mercator-Universität
Duisburg
1. Die Ansicht des Kratylos von der natürlichen Richtigkeit der Benennungen
Hermogenes
Willst Du also, daß wir auch den Sokrates zu unserer Unterredung hinzuziehen?
Kratylos
Wenn Du meinst
Hermogenes
Kratylos hier, o Sokrates, behauptet, jegliches Ding habe seine von Natur ihm zukommende richtige Benennung, und nicht das sei ein Name, wie einige unter sich ausgemacht haben etwas zu nennen, indem sie es mit einem Teil ihrer besonderen Sprache anrufen; sondern es gebe eine natürliche Richtigkeit der Wörter, für Hellenen und Barbaren insgesamt die nämliche. Ich frage ihn also, ob denn Kratylos in Wahrheit sein Name ist, und er gesteht zu, ihm gehöre dieser Name. - Und dem Sokrates? fragte ich weiter. - Sokrates, antwortete er. - Haben nun nicht auch alle andern Menschen jeder wirklich den Namen, mit dem wir ihn rufen? - Wenigstens der deinige, sagte er, ist nicht Hermogenes, und wenn dich auch alle Menschen so rufen. - <...>
2. Gegenthese des Hermogenes: Die Benennungen gründen auf Vertrag und Übereinkunft
Hermogenes
Ich meines Teils, Sokrates, habe schon oft mit diesem und vielen anderen darüber gesprochen und kann mich nicht überzeugen, daß es eine andere Richtigkeit der Worte gibt, als die sich auf Vertrag und Übereinkunft gründet. Denn mich dünkt, welchen Namen jemand einem Dinge beilegt, der ist auch der rechte, und wenn man wieder einen anderen an die Stelle setzt und jenen nicht mehr gebraucht, so ist der letzte nicht minder richtig als der zuerst beigelegte, wie wir unsern Knechten andere Namen geben. Denn kein Name irgendeines Dinges gehört ihm von Natur, sondern durch Anordnung und Gewohnheit derer, welche die Wörter zur Gewohnheit machen und gebrauchen
Sokrates
Vielleicht liegt etwas in dem, was Du sagst, Hermogenes. Laß uns nur zusehen. Wie jemand festsetzt jedes zu nennen, das ist denn auch eines jeden Dinges Name?
Hermogenes
So dünkt mich.
Sokrates
Nenne es nun ein einzelner so oder auch der Staat?
Hermogenes
Das behaupte ich.
Sokrates
Wie nun, wenn ich irgendein Ding benenne, wie, was wir jetzt Mensch nennen, wenn ich das Pferd rufe und was jetzt Pferd, Mensch: dann wird dasselbe Ding öffentlich und allgemein Mensch heißen, bei mir besonders aber Pferd, und das andere wiederum bei mir besonders Mensch, öffentlich aber Pferd? Meinst du es so?
Hermogenes
So dünkt es mich.
<...>
4. Die Falschheit des Satzes von Protagoras:
Sokrates
Wohlan, laß uns sehen, Hermogenes, ob dir vorkommt, daß es auch mit den Dingen ebenso steht, daß ihr Sein und Wesen für jeden einzelnen in besonderer Weise ist, wie Protagoras meinte, wenn er sagt, der Mensch sei das Maß aller Dinge, daß also die Dinge, wie sie mir erscheinen, so auch für mich wirklich sind, und wiederum wie dir, so auch für dich? Oder dünkt dich, daß sie in sich eine Beständigkeit ihres Wesens haben?
Hermogenes
Ich bin wohl sonst schon in der Verlegenheit auch dahin geraten, Sokrates, auf dasselbe, was auch Protagoras sagt; ganz und gar so glaube ich jedoch nicht, daß es sich verhalte.
Sokrates
Wie aber? Bist du auch darauf schon geraten, daß du nicht glauben konntest, ein Mensch sei gar schlecht?
Hermogenes
Nein, beim Zeus, vielmehr ist mir schon oft begegnet, daß mir Menschen gar schlecht vorgekommen sind, und zwar recht viele.
Sokrates
Und wie? Gar gut hast du noch nicht geglaubt, daß Menschen wären?
Hermogenes
Nur sehr wenige.
Sokrates
Also doch welche?
Hermogenes
O ja.
Sokrates
Wie aber meinst du es? Etwa so, daß die gar guten auch gar vernünftig sind und die gar schlechten auch gar unvernünftig?
Hermogenes
Ich meine es gerade so.
Sokrates
Können nun wohl, wenn Protagoras wahr redete und dies die Wahrheit ist, daß für jeden, wie ihm etwas erscheint, so es auch ist, alsdann einige von uns vernünftig sein und andere unvernünftig?
Hermogenes
Nicht füglich.
Sokrates
Auch dies, denke ich, glaubst du gar sehr, daß, wenn es Vernunft und Unvernunft gibt, es dann eben nicht sehr möglich ist, daß Protagoras recht habe. Denn es wäre ja in Wahrheit nicht einer vernünftiger als der andere, wenn, was jedem schiene, auch für jeden wahr wäre.
Hermogenes
Das ist richtig.
5. Dinge und Handlungen haben ihr eigenes bestehendes Wesen
Sokrates
Aber auch nicht mit dem Euthydemos, denke ich, hältst du es, daß allen alles auf gleiche Weise zugleich und immer zukommt. Denn auch so können nicht einige gut und andere schlecht sein, wenn gleichermaßen allen immer Tugend und Laster zukommt.
Hermogenes
Ganz recht.
Sokrates
Also wenn weder allen alles auf gleiche Weise zugleich und immer zukommt, noch auch jedes Ding für jeden auf eine besondere Weise da ist: so ist offenbar, daß die Dinge an und für sich ihr eigenes bestehendes Wesen haben und nicht nur in Beziehung auf uns oder von uns hin und her gezogen nach unserer Einbildung, sondern für sich bestehend, je nach ihrem eigenen Wesen seiend, wie sie geartet sind.
Hermogenes
So verhält es sich meines Erachtens, Sokrates.
Sokrates
Sollen nun sie selbst zwar so geartet sein, ihre Handlungen aber nicht nach derselben Weise? Oder sind nicht auch diese eine eigene Art dessen, was ist, die Handlungen?
Hermogenes
Allerdings auch diese.
Sokrates
Also auch die Handlungen gehen nach ihrer eigenen Natur vor sich und nicht nach unserer Vorstellung. Wie wenn wir unternehmen, etwas zu zerschneiden, sollen wir dann jedes schneiden, wie wir wollen und womit wir wollen? Oder werden wir nur dann, wenn wir jedes nach der Natur des Schneidens und Geschnittenwerdens und mit dem ihm Angemessenen schneiden wollen, nur dann es wirklich schneiden und auch einen Vorteil davon haben und die Handlung recht verrichten, wenn aber gegen die Natur, dann es verfehlen und nichts ausrichten?
Hermogenes
So dünkt es mich.
Sokrates
Nicht auch, wenn wir etwas unternehmen zu brennen, müssen wir es nicht nach jeder Weise, wie sie uns zuerst einfällt, brennen, sondern nach der richtigen, und das ist die, wie eines jeden Natur ist, zu brennen und gebrannt zu werden und womit?
Hermogenes
Gewiß.
Sokrates
Nicht auch so in allem übrigen?
Hermogenes
Allerdings.
6. Reden und Benennen als Handlung haben ihre eigene Natur
Sokrates
Ist nun nicht auch das Reden eine Handlung?
Hermogenes
Ja.
Sokrates
Wird also wohl einer, wenn er so redet, wie er eben glaubt, daß man reden müsse, richtig reden, oder wird er nur dann, wenn er auf die Weise und vermittels dessen, wie es der Natur des Sprechens und Gesprochenwerdens angemessen ist, von den Dingen redet, nur dann Vorteil davon haben und wirklich etwas sagen, wenn aber nicht, dann es verfehlen und nichts damit ausrichten?
Hermogenes
So dünkt es mich, wie du sagst.
Sokrates
Und ein Teil des Redens ist doch das Benennen. Denn durch Benennung besteht jede Rede?
Hermogenes
Freilich.
Sokrates
Also ist auch das Benennen eine Handlung, wenn das Reden ein Handeln mit den Dingen war?
Hermogenes
Ja.
Sokrates
Die Handlungen aber waren, wie sich gezeigt hatte, nicht nur je nachdem wir waren, sondern hatten jede ihre eigene Natur?
Hermogenes
So ist es.
Sokrates
Also auch benennen muß man so und vermittels dessen, wie es in der Natur des Benennens und Benanntwerdens der Dinge liegt, nicht aber so, wie wir etwa jedesmal möchten, wenn uns anders dies mit dem vorigen übereinstimmen soll, und nur so werden wir etwas davon haben und wirklich benennen, sonst aber nicht?
Hermogenes
Offenbar.
7. Bestimmung des Wortes als belehrendes Werkzeug
Sokrates
Wohlan! Was man schneiden musste, musste man doch, sagen wir, vermittels etwas schneiden.
Hermogenes
Ja.
Sokrates
Und was weben, vermittels etwas weben, und was bohren, mittels etwas bohren?
Hermogenes
Freilich.
Sokrates
Also auch was man benennen musste, musste man mittels etwas benennen?
Hermogenes
So ist es.
Sokrates
Was ist nun jenes, womit man bohren muß?
Hermogenes
Der Bohrer.
Sokrates
Und womit man weben muß?
Hermogenes
Die Weberlade.
Sokrates
Und was, womit benennen?
Hermogenes
Das Wort.
Sokrates
Richtig. Ein Werkzeug ist also auch das Wort.
Hermogenes
Freilich.
Sokrates
Wenn ich nun fragte: Was für ein Werkzeug war doch die Weberlade? Nicht das, womit man webt.
Hermogenes
Ja.
Sokrates
Was tut man aber, wenn man webt? Nicht, daß wir den Einschlag und die ineinander verworrene Kette wieder sondern?
Hermogenes
Ja.
Sokrates
Und ebenso wirst du mir auch über den Bohrer und das übrige antworten können.
Hermogenes
Gewiß.
Sokrates
Kannst du mir nun ebenso auch über das Wort Rechenschaft geben? Indem wir mit dem Wort als Werkzeug benennen, was tun wir?
Hermogenes
Das weiß ich nicht zu sagen.
Sokrates
Lehren wir nicht einander etwas und sondern die Gegenstände voneinander, je nachdem sie beschaffen sind?
Hermogenes
Allerdings.
8. Der Gesetzgeber als Urheber dieses Werkzeugs
Sokrates
Das Wort ist also belehrendes Werkzeug und ein das Wesen unterscheidendes und sonderndes, wie die Weberlade das Gewebe sondert.
Hermogenes
Ja.
Sokrates
Und die Lade gehört zur Weberei?
Hermogenes
Wie anders!
Sokrates
Der Webekünstler also wird die Lade recht zu gebrauchen wissen, recht aber heißt webekünstlerisch. Und ein Lehrkünstler das Wort, und recht heißt lehrkünstlerisch.
Hermogenes
Ja.
Sokrates
Und wessen Werk gebraucht dann der Weber recht, wenn er die Weberlade gebraucht?
Hermogenes
Des Tischlers Werk.
Sokrates
Und ist jeder ein Tischler, oder nur wer diese Kunst innehat?
Hermogenes
Nur der letzte.
Sokrates
Und wessen Werk gebraucht der Bohrende recht, wenn er den Bohrer braucht?
Hermogenes
Des Kleinschmieds.
Sokrates
Und ist jeder ein Kleinschmied, oder der die Kunst innehat?
Hermogenes
Der die Kunst innehat.
Sokrates
Wohl! Wessen Werk gebraucht nun aber jener Lehrkünstler, wenn er das Wort gebraucht?
Hermogenes
Auch das weiß ich wieder nicht.
Sokrates
Weißt du auch das nicht zu sagen, wer uns die Worte überliefert, die wir gebrauchen?
Hermogenes
Auch nicht.
Sokrates
Dünkt es dich nicht der Gebrauch und die eingeführte Ordnung zu sein, was sie uns überliefern?
Hermogenes
Das scheint wohl.
Sokrates
Es ist also ein Werk dessen, der die Gebräuche einrichtet, des Gesetzgebers, dessen jener Belehrende sich bedient, wenn er sich der Worte bedient?
Hermogenes
So scheint es mir.
Sokrates
Und meinst du, daß jedermann ein Gesetzgeber ist, oder nur, der die Kunst innehat?
Hermogenes
Der die Kunst innehat.
Sokrates
Also, o Hermogenes, kommt es nicht jedem zu, Worte einzuführen, sondern nur einem besonderen Wortbildner. Und dieser ist, wie es scheint, der Gesetzgeber, von allen Künstlern unter den Menschen der seltenste.
Hermogenes
So scheint es.
9. Verfertigung der Wörter im Hinblick auf das, was das Wort in Wahrheit ist
Sokrates
Wohl, so betrachte nun weiter, worauf der Gesetzgeber wohl sieht, indem er die Worte bestimmt. Mache es dir nur aus dem vorigen klar. Worauf blickt wohl der Tischler, wenn er die Weberlade macht? Nicht auf so etwas, dessen Natur und Wesen eben dies ist, das Gewebe zu schlagen?
Hermogenes
Freilich.
Sokrates
Und wie? Wenn ihm die Lade während der Arbeit zerbricht, wird er eine andere wieder machen, indem er auf die zerbrochene sieht oder wieder auf jenes selbige Bild, nach welchem er auch die zerbrochene gemacht hatte?
Hermogenes
Auf jenes, dünkt mich.
Sokrates
Jenes also könnten wir mit Recht die wahre Weberlade nennen, das, was sie wirklich ist.
Hermogenes
Das meine ich auch.
Sokrates
Also wenn für dichtes Zeug oder für dünnes, für leinenes oder für wollenes oder wofür sonst eine Weberlade zu mach ist: so müssten diese insgesamt das Bild der Weberlade in sich haben, wie sie aber nun für jedes insbesondere am besten geeignet wäre, diese Eigenschaft müsste ebenfalls in jedes Werk hineingelegt werden.
Hermogenes
Ja.
Sokrates
Und mit allen anderen Werkzeugen auf die nämliche Weise. Das seiner Natur nach jedem angemessene Werkzeug muß man ausgefunden haben und dann in dem niederlegen, woraus es so gemacht werden soll, nicht wie es jedem einfällt, sondern wie es die Natur mit sich bringt. Denn wie für ein jedes insbesondere der Bohrer geartet sein muß, diese Art muß man wissen in das Eisen hineinzulegen.
Hermogenes
Allerdings.
Sokrates
Also die für jedes von Natur geeignete Weberlade in das Holz?
Hermogenes
So ist es.
Sokrates
Denn von Natur gehört, wie wir sahen, jeder Art von Gewebe ihre besondere Weberlade, und so in allen andern Dingen?
Hermogenes
Ja.
Sokrates
Also, Bester, muß wohl auch den für jedes seiner Art nach gearteten Namen jener Gesetzgeber wissen in den Tönen und Silben niederzulegen und so, indem er auf jenes sieht, was das Wort wirklich ist, alle Worte machen und bilden, wenn er ein tüchtiger Bildner der Wörter sein will. Wenn aber nicht jeder Gesetzgeber das Wort in dieselben Silben niederlegt, das muß uns nicht irren. Denn auch nicht jeder Schmied, der zu demselben Zweck dasselbe Werkzeug macht, legt dasselbe Bild in dasselbe Eisen hinein. Dennoch, solange er nur dieselbe Gestalt wiedergibt, wenn auch in anderem Eisen, ist doch das Werkzeug ebenso gut und richtig gemacht, mag es einer hier oder unter den Barbaren gemacht haben. Nicht wahr?
Hermogenes
Allerdings.
Sokrates
Ebenso wirst du auch dafür halten, daß unser Gesetzgeber, der hiesige wie der unter den Barbaren, solange er nur die Idee des Wortes, wie sie jedem insbesondere zukommt, wiedergibt, in was für Silben es auch sei, daß alsdann der hiesige kein schlechterer Gesetzgeber ist als einer irgendwoanders?
Hermogenes
Freilich.
10. Aufsicht und Beurteilung bei der Wortverfertigung kommt dem Dialektiker zu
Sokrates
Wer wird nun aber erkennen, ob das gehörige Bild der Weberlade in irgendeinem Holze liegt? Der sie gemacht hat, der Tischler, oder der sie gebrauchen soll, der Weber?
Hermogenes
Wohl eher, o Sokrates, der sie gebrauchen soll.
Sokrates
Wer ist es nun, der des Kitharenmachers Werk gebrauchen soll? Ist er nicht auch der, welcher am besten bei der Verfertigung die Aufsicht führen und die verfertigten auch am besten beurteilen würde, ob sie gut gearbeitet sind oder nicht?
Hermogenes
Gewiß.
Sokrates
Aber wer?
Hermogenes
Der Kitharenspieler.
Sokrates
Und wer das Werk des Schiffbauers?
Hermogenes
Der Steuermann.
Sokrates
Wer aber könnte am besten über dieses Geschäft des Gesetzgebers die Aufsicht führen und seine Arbeit beurteilen, hier sowohl als unter den Barbaren? Nicht der, der sie auch gebrauchen soll?
Hermogenes
Ja.
Sokrates
Ist das nun nicht der, welcher zu fragen versteht?
Hermogenes
Allerdings.
Sokrates
Und derselbe doch auch zu antworten?
Hermogenes
Ja.
Sokrates
Und der zu fragen und zu antworten versteht, nennst du den anders als Dialektiker?
Hermogenes
Nein, sondern so.
Sokrates
Des Zimmermanns Geschäft also wäre, ein Steuerruder zu machen unter Aufsicht des Steuermannes, wenn daß Ruder gut werden soll.
Hermogenes
Richtig.
Sokrates
Des Gesetzgebers aber, wie es scheint, Wörter, wobei er zum Aufseher hätte einen dialektischen Mann, wenn der die Wörter gut bilden soll.
Hermogenes
Offenbar.
Sokrates
Also vermag es doch wohl nichts so Geringes sein, wie du glaubst, Hermogenes, Worte zu bilden und Benennungen festzusetzen, auch nicht schlechter Leute Sache oder des ersten besten; sondern Kratylos hat recht, wenn er sagt, die Benennungen kämen den Dingen von Natur zu, und nicht jeder sei ein Meister im Wortbilden, sondern nur der, welcher, auf die einem jeden von Natur eigene Benennung achten, ihre Art und Eigenschaft in die Buchstaben und Silben hineinzulegen versteht.
<...>
11. Homer über die Richtigkeit der Namen: die Sprache der Götter
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Hermogenes
Und was sagt denn Homeros von der Richtigkeit der Benennungen, o Sokrates, und wo?
Sokrates
An vielen Stellen, vorzüglich aber und am schönsten da, wo er an denselben Dingen unterscheidet, welche Namen die Menschen ihnen beilegen und welche die Götter. Oder meinst du nicht, daß er an diesen Stellen vortreffliche und wunderbare Dinge sagt von der Richtigkeit der Wörter? Denn offenbar werden doch die Götter wohl vollkommen richtig mit den Wörtern benennen, die es von Natur sind. Oder meinst du nicht?
Hermogenes
Soviel weiß ich ja wenigstens, daß, wenn sie etwas benennen, sie es auch richtig benennen. Aber was meinst nu nur eigentlich?
Sokrates
Weißt du nicht, daß er von dem Fluß bei Troja, welcher einen Zweikampf mit dem Hephaistos hatte, sagt: "Xanthos im Kreise der Götter genannt, von Menschen Skamandros"?
Hermogenes
Das weiß ich; und was dann?
Sokrates
Glaubst du nicht, daß das etwas Hochwichtiges sein muß, zu verstehen, wieso es richtiger ist, jenen Fluß Xanthos zu nennen als Skamandros? Oder wenn du lieber willst, wegen jenes Vogels, von dem er sagt, er werde "Chalkis von Göttern genannt und Nachtaar unter den Menschen", hältst du es für eine geringfügige Einsicht, wie viel richtiger es ist, daß dieser Vogel Chalkis heiße, als Nachtaar? Oder Batieia und das Mal der sprunggeübten Myrine und viel anderes bei diesem Dichter und andern? Doch dergleichen ist vielleicht zu groß, als daß ich und du es herausbringen sollten; von Skamandrios und Astyanax aber, welche Namen beide, wie er sagt, der Sohn des Hektor gehabt, mag es menschenmöglicher sein, wie mich dünkt, und leichter, aufs reine zu bringen, wie er es wohl mit ihrer Richtigkeit meint. Du kennst doch wohl die Verse, worin das steht, was ich meine?
Hermogenes
Allerdings.
Sokrates
Von welchem Namen also meinst du, daß Homeros geglaubt, er sei dem Kinde richtiger beigelegt worden, Astyanax oder Skamandrios?
Hermogenes
Das weiß ich nicht zu sagen.
12. Die beiden Namen für Hektors Sohn und sein eigener Name
Sokrates
Überlege es nur so. Wenn dich jemand fragte: Wer, glaubst Du wohl, kann richtiger Namen beilegen, die Vernünftigeren oder die Unvernünftigeren?
Hermogenes
Offenbar die Vernünftigeren, würde ich sagen.
Sokrates
Scheinen dir nun wohl die Weiber die Vernünftigeren in der Stadt zu sein oder die Männer, wenn man es so im allgemeinen sagen soll?
Hermogenes
Die Männer.
Sokrates
Nun weißt du doch, daß Homeros sagt, das Söhnchen des Hektor sei von den Troern Astyanax genannt worden; also Skamandrios wohl von den Weibern, wenn die Männer ihn Astyanax nannten?
Hermogenes
So scheint es ja.
Sokrates
Nun hielt doch auch Homeros wohl die Troer für verständiger als ihre Weiber?
Hermogenes
So glaube ich wenigstens.
Sokrates
Also glaubte er, der Knabe hieße richtiger Astyanax als Skamandrios.
Hermogenes
Das ist deutlich.
Sokrates
Laß uns denn zusehen, weshalb wohl. Oder gibt er uns selbst das Warum am besten an die Hand? Er sagt nämlich: "denn er allein beschirmte die Stadt und die türmenden Mauern". Darum mag es ganz recht sein, des Beschützers Sohn Astyanax, Stadtherrn, zu nennen dessen, was sein Vater beschützte, wie Homeros sagt.
Hermogenes
Das leuchtet mir ein.
Sokrates
Wieso denn? Ich selbst verstehe es ja jetzt noch nicht recht, und du verstehst es?
Hermogenes
Nein, beim Zeus, ich auch nicht.
Sokrates
Hat etwa, du Guter, auch dem Hektor selbst Homeros seinen Namen beigelegt?
Hermogenes
Wieso?
Sokrates
Weil es mir damit fast ebenso zu sein scheint wie mit dem Astyanax und diese Namen ganz hellenischen gleichen. Denn Anax, Herr, und Hektor, Inhaber, bedeuten fast dasselbe und scheinen beides königliche Namen zu sein. Denn worüber einer Herr ist, davon ist er auch Inhaber; denn offenbar beherrscht er es und besitzt es und hat es. Oder scheine ich dir nichts zu sagen und täusche mich, indem ich glaube, die Spur ausgefunden zu haben von Homeros' Meinung über die Richtigkeit der Benennungen?
Hermogenes
Nein, beim Zeus, das nicht, wie mich dünkt, sondern du hast wahrscheinlich wohl etwas gefunden.
<...>