Platon: Kratylos

[11. Homer über die Richtigkeit der Namen: die Sprache der Götter]

SOKRATES: Also nächstdem müssen wir untersuchen, wenn du es zu wissen begehrst, was nun eigentlich die Richtigkeit desselben ist.

[...]

SOKRATES: Also wenn dir das wieder nicht gefällt, so müßten wir es vom Homeros lernen und von den andern Dichtern.

HERMOGENES: Und was sagt denn Homeros von der Richtigkeit der Benennungen, o Sokrates, und wo?

SOKRATES: An vielen Stellen, vorzüglich aber und am schönsten da, wo er an denselben Dingen unterscheidet, welche Namen die Menschen ihnen beilegen und welche die Götter. Oder meinst du nicht, daß er an diesen Stellen vortreffliche und wunderbare Dinge sagt von der Richtigkeit der Wörter? Denn offenbar werden doch die Götter wohl vollkommen richtig mit den Wörtern benennen, die es von Natur sind. Oder meinst du nicht?

HERMOGENES: Soviel weiß ich ja wenigstens, daß, wenn sie etwas benennen, sie es auch richtig benennen. Aber was meinst du nur eigentlich?

SOKRATES: Weißt du nicht, daß er von dem Fluß bei Troja, welcher einen Zweikampf mit dem Hephaistos hatte, sagt: «Xanthos im Kreise der Götter genannt, von Menschen Skamandros»?

HERMOGENES: Das weiß ich; und was dann?

SOKRATES: Glaubst du nicht, daß das etwas Hochwichtiges sein muß, zu verstehen, wieso es richtiger ist, jenen Fluß Xanthos zu nennen als Skamandros? Oder wenn du lieber willst, wegen jenes Vogels, von dem er sagt, er werde «Chalkis von Göttern genannt und Nachtaar unter den Menschen», hältst du es für eine geringfügige Einsicht, wieviel richtiger es ist, daß dieser Vogel Chalkis heiße, als Nachtaar? Oder Batieia und das Mal der sprunggeübten Myrine und viel anderes bei diesem Dichter und andern? Doch dergleichen ist vielleicht zu groß, als daß ich und du es herausbringen sollten; von Skamandrios und Astyanax aber, welche Namen beide, wie er sagt, der Sohn des Hektor gehabt, mag es menschenmöglicher sein, wie mich dünkt, und leichter, aufs reine zu bringen, wie er es wohl mit ihrer Richtigkeit meint. Du kennst doch wohl die Verse, worin das steht, was ich meine?

HERMOGENES: Allerdings.

SOKRATES: Von welchem Namen also meinst du, daß Homeros geglaubt, er sei dem Kinde richtiger beigelegt worden, Astyanax oder Skamandrios?

HERMOGENES: Das weiß ich nicht zu sagen.

[12. Die beiden Namen für Hektors Sohn und sein eigener Name]

SOKRATES: Überlege es nur so. Wenn dich jemand fragte: Wer, glaubst du wohl, kann richtiger Namen beilegen, die Vernünftigeren oder die Unvernünftigeren?

HERMOGENES: Offenbar die Vernünftigeren, würde ich sagen.

SOKRATES: Scheinen dir nun wohl die Weiber die Vernünftigeren in der Stadt zu sein oder die Männer, wenn man es so im allgemeinen sagen soll?

HERMOGENES: Die Männer.

SOKRATES - Nun weißt du doch, daß Homeros sagt, das Söhnchen des Hektor sei von den Troern Astyanax genannt worden; also Skamandrios wohl von den Weibern, wenn die Männer ihn Astyanax nannten?

HERMOGENES: So scheint es ja.

SOKRATES: Nun hielt doch auch Homeros wohl die Troer für verständiger als ihre Weiber?

HERMOGENES: So glaube ich wenigstens.

SOKRATES: Also glaubte er, der Knabe hieße richtiger Astyanax als Skamandrios.

HERMOGENES: Das ist deutlich.

Platon: Sämtliche Werke 2. Menon, Hippias I, Euthydemos, Menexenos, Kratylos, Lysis, Symposion (In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grassi u. Gert Plamböck) (= Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft: Griechische Philosophie 3). Hamburg: Rowohlt 1993: 134-135.