Von Träumen und Visionen

Beitrag aus dem Modul zu afrikawissenschaftlichen Methoden (4. Semester, BA Afrikastudien, Sommersemester 2017) zum Thema Studierendenproteste.

Verena Blaimer, Isabelle Bertram, Lisa Erlmann

Ari Awagana, Mohamed Ben Omar und Sita Diabiri: drei Männer aus dem Niger, die durch ihr Engagement in Studierendenprotesten in Niamey, der Hauptstadt des Nigers, miteinander verbunden sind. Die ersten beiden demonstrierten im Jahr 1990, der letztgenannte 2017. Sie verkörpern exemplarisch die vielen einzelnen Personen, die hinter Protesten stehen. Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Menschen wie Ari Awagana, Mohamed Ben Omar und Sita Diabiri, die zu verschiedenen Zeiten auf die Straße gehen, um zu protestieren?

Studierende bei einem Protest in Niamey

Ari Awagana und Mohamed Ben Omar, damals beide Studierende der Universität Niamey, waren Teil des Studierendenprotests am 9. Februar 1990 in Niamey. Struktur-anpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds drohten die Studien- und Lebensbedingungen, mit denen die Studierenden ohnehin schon unzufrieden waren, weiter zu verschlechtern. Dazu kam ein autoritäres politisches System, das Meinungsfreiheit, ein Mehrparteiensystem und Reformen hin zu einer Demokratie verhinderte. Die Studierenden erarbeiteten in Diskussionsrunden konkrete Forderungen, welche aber von der Regierung unter Präsident Ali Saibou ignoriert wurden. Um sich Gehör zu verschaffen, gingen die Studierenden – unter ihnen Ari Awagana und Mohamed Ben Omar – am 9. Februar 1990 auf die Straße. Die geplante Route des Protestmarschs führte von der auf der westlichen Seite des Niger-Flusses gelegenen Universität zum Stadtzentrum auf der östlichen Seite. Die beiden Ufer waren 1990 nur durch eine einzige Brücke miteinander verbunden. Es war abzusehen, dass die Polizei versuchen würde, die Protestierenden daran zu hindern, ins Stadtzentrum zu gelangen. So kam es auf der Brücke zur Konfrontation zwischen Studierenden und der Polizei. Letztere stellte sich den Protestierenden gewaltsam entgegen und schoss in die Menge. Drei Studierende starben, viele wurden verletzt – unter ihnen Ari Awagana. Ihn traf eine Kugel in den linken Fuß.

Rückblickend lösten die Ereignisse am 9. Februar 1990 einen Wandel des politischen Systems im Niger aus. Aufgrund anhaltender Proteste sah sich die Regierung gezwungen, im Jahr darauf eine Nationalkonferenz einzuberufen. Dabei ging eine große Anzahl an Sitzen an Studierende. Ein Mehrparteiensystem wurde eingeführt und ein neuer Präsident vereidigt. Mohamed Ben Omar ging in die Politik und wurde zuletzt Minister für höhere Bildung. Ari Awagana verließ den Niger und arbeitet heute als Dozent an der Universität.

Sita Diabiri, aktuell Studierender an der Universität Niamey, nahm am Protest am 9. Februar 2017 teil. Er ist zudem Vorsitzender der Studierendenorganisation UENUN, die schon 1990 die Studierendenproteste maßgeblich mitorganisierte. Wie auch in den Jahren davor nahmen die Studierenden 2017 den Jahrestag des Protests von 1990 zum Anlass, um erneut auf die Straße zu gehen. Über die Jahre hinweg hat sich dieser Tag für Protestmärsche etabliert. Das Gedenken an die damaligen Ereignisse wird dabei mit aktuellen Forderungen nach besseren Lebens- und Studienbedingungen, fristgerechten staatlichen Stipendienzahlungen und mehr Demokratie verbunden.

Immer wieder ereignen sich während der Proteste gewaltsame Zusammenstöße zwischen Protestierenden und der Polizei.  Neben den drei Toten von 1990, welcher als Märtyrer gedacht wird, sind mittlerweile mindestens zwei weitere Protestierende zu Tode gekommen. Mohamed Ben Omar, der einst als Student selbst mit auf die Straße ging, ließ zuletzt als Minister für höhere Bildung hart gegen Studierendenproteste durchgreifen. Trotzdem gingen die Proteste weiter, woraufhin der Präsident des Nigers Mohamed Ben Omar als Minister für höhere Bildung absetzte und zum neuen Arbeitsminister ernannte.

Auch wenn zwischen dem Protest von Ari Awagana und Mohamed Ben Omar und dem von Sita Diabiri 27 Jahre liegen, bestehen zwischen ihnen zahlreiche Zusammenhänge. Sehr ähnliche Forderungen bewegen die Studierenden seit 1990 immer wieder dazu, auf die Straße zu gehen. Das Gedenken jüngerer Proteste an vorangegangene schafft eine Schicksalsgemeinschaft über Generationen hinweg. Hinter dieser Gemeinschaft an Protestierenden stehen einzelne Personen wie Ari Awagana, Mohamed Ben Omar und Sita Diabiri, mit Visionen und Träumen für eine demokratischere Zukunft mit besseren Studien- und Lebensbedingungen. Manche der Protestierenden haben dafür ihr Leben gelassen. Andere, wie Ari Awagana, tragen ihr Leben lang Narben an ihrem Körper und Erinnerungen im Kopf. Bei einigen, wie Mohammed Ben Omar, stellt sich die Frage, was aus den einstigen Träumen und Visionen geworden ist. Wieder andere Protestierende, wie Sita Diabiri, sind noch mitten im Kampf für ihre Überzeugungen, unwissend, welche Auswirkungen ihre Proteste haben werden oder welche Konsequenzen sich aus ihrem Engagement auf ihr eigenes Leben ergeben werden.

Weitergehende Forschung könnte sich mit der Frage beschäftigen, warum gerade Studierende für Demokratie auf die Straße gehen. Darüber hinaus könnten noch weitere ehemalige Protestierende zu den Auswirkungen ihres Mitwirkens an den Protesten auf ihre Biographien befragt werden, um mögliche gemeinsame Strukturen zu erkennen.

Quellen:

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Bulitta, Erich und Hildegard. 2017. Von der Erinnerung zu einer Erinnerungs- und Gedenkkultur – Analyse, Schritte zu einer Erinnerungs- und Gedenkkultur – Band II. Berlin: epubli.

Diabiri, Sita. 2017. Schriftliche Beantwortung von Fragen (aktueller Vorsitzender der Studierendenorganisation „Union des Étudiants Nigeriens à l’Université de Niamey“).

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Foto: http://jeunesseduniger.blogspot.de/2014/02/commemoration-de-la-journee-des-martyrs.html (08.06.17).