Auf der Suche nach einem Buch: wonach sonst! Oder die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen

Verehrter Prof. Rincón, lieber Carlos,

ich habe hier ein Geschenk, das es in sich hat und deshalb kann ich es Dir nicht überreichen, ohne einige Erläuterungen voranzustellen.

Als ich davon erfuhr, dass unsere Fakultät Dich mit dem Dr.h.c. ehren wollte, begann ich über ein ganz persönliches und angemessenes Geschenk für Dich nachzudenken. Die Frage aber war, was? Die Schwierigkeit lag darin, dass das Geschenk etwas ganz besonders, etwas Außergewöhnliches, ein Unikat oder beinahe ein Unikat sein sollte, denn wir wissen, die Objekte in unserem Zeitalter vermehren sich ohne erkennbare Regeln.

So traf ich mich in der Beethovenstr. mit meinen Schülern und MitarbeiterInnen, mit René Ceballos, Claudia Gatzemeier, Claudia Gronemann und Cornelia Sieber (ich merke, wie sich der Buchstabe „C“ vermehrte, was auf eine tiefe Verbindung schließen lässt, aber ich widerstehe dieser Spekulation, die uns mit Sicherheit zu weit führen würde). Wir unterhielten uns nicht über Tlön, aber wälzten doch einen Katalog mit dem Titel „Geschenkideen: Unikate”. Das meiste darin – war banal, aber auf der letzten Seite fanden wir dann einen Hinweis auf Unikate im Band II, der sich aber natürlich nicht in der Bibliothek meines Dienstzimmers befand. So begaben wir uns ins Archiv des Ibero-Amerikanischen Forschungsseminars und wälzten Dutzende von Bänden, natürlich, erfolglos!

Mir fiel plötzlich ein Spruch wieder ein: „Geschenkideen sind abscheulich, weil sie die Zahl der Geschenke ins unendliche vermehren. Unikate sind noch schlimmer, weil sie die Existenz eines Ursprungs vortäuschen; rhizomatische Unikate hingegen wären ein Genuss, weil sie immer überraschend auftauchen und wieder verschwinden“.

Wir trennten uns also mit der Absicht, diesem Spruch zu folgen und ich war zuversichtlich, den verschollenen Band II samt Spruch in meiner Bibliothek in der Brockhausstr. zu finden.

Wieder einmal scheiterte meine Suche. Plötzlich fiel mir eine seltsame Begegnung in Bern im November 2002 ein, die nach meinen Vorträgen über Borges im „Círculo de amigos de España, Portugal e Iberoamérica“ und im „ Instituto de Lenguas y Literaturas Hispánicas“ der Berner Universität stattfand. Nach dem Vortrag kam ein älterer Herr namens Thomas Liechti zu mir. Muy servicial y muy correcto, y también hace trabajos de anticuario, „Era [...] un hombre consumido y terroso, de ojos grises y barba gris, de rasgos singularmente vagos, [er ist sehr entgegenkommend, sehr korrekt, und er erledigt auch antiquarische Arbeiten”; „Er war [...] ein ausgemergelter, erdfahler Mann mit grauen Augen und grauem Bart und einzigartig vagen Gesichtszügen!”]. Nach dieser Beschreibung wusste ich, er müsste Bernard Quaritch sein, aber, nein eigentlich Joseph Cartaphilus de Esmirna. Er trat leise und fast zögerlich an mich heran und sagte, er wolle mir etwas ganz besonders zeigen: Er streckte mir ein kleines Büchlein hin, es war die erste Ausgabe von Fiktionen des argentinischen Universalgenies J.L. Borges. Ich war, wie Du es Dir, lieber Carlos, gut vorstellen kannst, paralysiert. Für einen winzigen Augenblick glaubte ich, der Antiquar wäre ...-  er war Katalane lebte seit 50 Jahren in Bern und spezialisierte sich auf die Sammlung lateinamerikanischer Literatur, auf die Kostbarkeiten verstehet sich. Ich dachte in einer Sekunde der Unvernunft, er wollte mir den Band schenken. Er bemerkte sofort dieses Gefühl, erschrak und zog dabei die Hand mit dem Buch weg. Er schlug das Buch auf und sagte mir, mit triumphierenden Augen, „das ist eine Widmung von Borges“. Da sah ich das Aleph, Pardon, die Schrift von der Hand, die Das Aleph verfasst hatte, die Schrift war gerafft, gebunden, makellos. Er zog das Büchlein abrupt zurück, schlug es zu und steckte es sich in die Tasche, als ob es in Gefahr wäre. Dann verschwand er. Er kam zurück kurz vor dem Ende des Empfangs, bei dem ich weder zum Trinken noch zum Essen gekommen war (ein Schicksal, dass alle Vortragenden teilen). Er sagte mir, „ich gebe Ihnen doch etwas, etwas Einmaliges, eine Kostbarkeit, die man nicht auf dem Markt findet“. Es war ein kleiner Band der Luxus-Ausgabe der Pléiade mit einem Umschlag aus braunem Leder in einem kartonierten Schuber. Auf der Frontseite war Borges mitten in einer Zirkelkette stehend zu sehen. Der Titel lautete schlicht „Album Borges. Iconographie choisie et commentée par Jean Pierre Bernés, 280 Illustrations“ [Borges-Album. Ikonographie ausgewählt und kommentiert von Jean Pierre Bernés, 280 Abbildungen]. Auf der Rückseite war ein Labyrinth mit einem Minotaurus im Zentrum abgebildet. Auch hierzu gab es einen Text: Conçu et réalisé spécialement á l’occasion de la Quinzaine de la Pléiade 1999, l’Album Borges vous est gracieusement offert par votre libraire pour tout achat de trois volumes de la Pléiade“. [Konzipiert und entworfen für die zweiwöchige Werbeaktion 1999 der Pléiade, das Borges-Album wird ihnen freundlicherweise von Ihrer Buchhandlung angeboten, wenn Sie drei Pléiade-Bücher kaufen]. Thomas Liechti, Bernard Quaritch oder Joseph Cartaphilus de Esmirna, wie auch immer der Mann hieß, fügte mit leiser und geheimnisvoller Stimme hinzu: „Es ist das letzte Exemplar, das ich habe, vielleicht das letzte weltweit; das schenke ich Ihnen“. Ich war auf einmal entschädigt für die vorherige Enttäuschung. Warum er mir dieses Geschenk machte, soll ein Geheimnis bleiben, einen Teil der Gründe erfuhr ich später, aber nur einen Teil.

Nun fiel mir in meiner Not, ein Geschenk für Dich zu finden, eben diese Begebenheit mit dem Antiquar wieder ein: ich könnte von ihm noch ein solches Exemplar erhalten, dachte ich, wie es auf der Rückseite stand, auch entgegen seiner Beteuerung, es gäbe keine Exemplare mehr. Ich rief ihn in Bern an, niemand antwortete. Im Verlauf des Tages schaltete sich ein Anrufbeantworter ein, blieb aber stumm, dann war die Leitung tot, es gab kein Durchkommen mehr; ich schickte ihm mehrere Mails, aber alle kamen mit dem Vermerk: Undelivered Mail Returned to Sender, und die Briefpost als „Nicht zustellbar“ zurück.

Da fiel mir eine werte Freundin aus Bern ein, die ich damals zum selben Anlass kennen gelernt hatte: Adriana López, aus Kuba stammend, die über Borges und den Kanon promovieren wollte und kurz darauf auch meine Doktorandin wurde. Ich rief sie an und fragte, was mit dem Laden los sei, ob es ihn noch gäbe, denn ich erhielte von dort keine Antwort. Ich sagte ihr, ich bräuchte das Borges-Album noch einmal, sonst liefe ich Gefahr, mein eigenes Exemplar los zu werden. Sie erwiderte energisch, „niemals darfst Du das Buch weiter verschenken, denn ich habe damals interveniert, damit Du diesen letzten Band erhältst“. Der Anlass, konterte ich, sei zu wichtig. Sie sagte mir, „sie wisse, dass es tatsächlich kein weiteres Exemplar mehr gäbe, denn sie jobbe immer wieder dort aus Liebe zu den „libri rari“, dennoch würde sie am nächsten Tag vorbei gehen – sie wäre erst vor zwei Tagen dort gewesen und wisse, dass das Ganze gar keinen Zweck hätte – aber sie macht es gern zur Sicherheit“.

Sie meldete sich am nächsten Tag nicht, ich rief Sie dann in Biel bzw. in Bienne an, aber die Leitung war tot. Ich verzweifelte, ich verdrängte jede weitere Überlegung dazu, denn ich wollte mich nicht wie der Eigentümer des Sandbuches fühlen: verloren.

Ich hörte nichts mehr von ihr. Zwischendurch kam eine Postkarte aus Barcelona! Sie arbeite immer noch über Borges und über den Kanon, sie mache Fortschritte, sie schicke mir bald einige Kapitel. Kein Wort über das Buch. Ich ertrug diese Auslassung mit Geduld. Aber wie war dieses Verschweigen, diese Unachtsamkeit oder sogar Indolenz zu verstehen? Als Hoffnung? Versuchte sie, das Buch für mich zu finden oder war sie gescheitert und wagte nicht, mich zu enttäuschen? Vielleicht war der Laden einfach weg, verschwunden von heute auf morgen?

Eines Vormittags im Juni, versenkt in einen Artikel von Dir Carlos, den ich gerade erst entdeckt hatte, über „Antropofagia, reciclaje, hibridación, traducción, o: cómo apropiarse la apropiación“ [„Anthropophagie, Recycling, Hybridisierung, oder: wie kann man sich die Aneignung aneignen”], ein Artikel über ein Thema, über das ich in Verbindung mit Hybridität auch gerade dabei war, einen Artikel zu verfassen, ein Thema, über das Carlos Rincón im März, vor meiner Entdeckung seines Beitrags, wie bei anderen Gelegenheiten den Eindruck vermittelte, nicht viel zu wissen oder nur so viel, dass er mit mir „gerade noch so“ ein Gespräch darüber führen konnte (während ich redete und redete; was für ein Irrtum!), da kam meine Frau mit einem weißen Umschlag aus Biel bzw. Bienne in mein Arbeitszimmer. Also aus der Schweiz?! Ich erkannte den Absender sofort und begann wieder zu hoffen, aber der Zollstempel verriet, dass das Buch nur einen Wert von 12 Schweizer Franken hatte. Auf der Rückseite stand A.L. als Absenderin. Ich bekam eine Gänsehaut (auf der ganzen rechten Seite meines Körpers), wie auch jetzt, wenn ich diesen Bericht wiedergebe und so auch als ich diesen Bericht verfasst habe. Ich öffnete vorsichtig den Umschlag, klappte die Lasche auf und sah einen kleinen Zettel mit dem magischen Wort: „Undr, que quiere decir maravilla“ [Undr, das Wunder bedeutet], weiter hieß es „aber sei vorsichtig, nur für Eingeweihte, ich garantiere nicht, dass das Buch sich nicht auflöst, bitte auf keinen Fall das Buch aufklappen”. Der Titel des Buches lautete: „Album Borges. Iconographie choisie et commentée par Jean Pierre Bernés, 280 Illustrations“. Was auf der Rückseite stand, weiß ich noch nicht, da ich nicht wagte, das Buch aus dem Umschlag zu nehmen. Also es handelte sich offenbar um das selbe Exemplar, das ich damals vom Antiquar geschenkt bekam, von dem es angeblich ja keine anderen Exemplare mehr gab.

Was war geschehen? Habe ich das Buch erträumt und Kraft meines Geistes es der Realität aufgedrängt, so wie jener Fremder in „Ruinas Circulares“ („Die kreisförmigen Ruinen“), der „quería soñar un hombre: quería soñarlo con integridad minuciosa e imponerlo a la realidad“? [der einen Menschen erträumen wollte; ihn bis in die kleinste Einzelheit erträumen und ihn der Wirklichkeit aufzwingen wollte“]? oder geht es uns hier so wie in Tlön, Ukbar Orbis Tertius, als plötzlich Gegenstände von dem erfundenen phantastischen Planeten Tlön einer erfundenen Galaxie, genannt Ukbar, auftauchen, über die in der erfundenen Anglo-American Cyclopaedia berichtet wird? Ich war viel bescheidener; ich habe offenbar nur ein Buch geträumt. Was mich aber störte und heute noch mit Schrecken erfüllt, ist der Gedanke, dass mein Geschenk nur eine Projektion des angeblich letzten Buches sei, bzw. das mein eigenes Exemplar auch nur eine Projektion der Projektion anderer Exemplare sei und so weiter ad libitum. Also, bin ich doch gescheitert mit meinem Vorhaben, Dir lieber Carlos, ein Unikat zu schenken? Ist das, was ich Dir gleich überreichen werden pure Virtualität, Simulatio, zumal die Identität des Antiquars geradezu hybrid ist? Darüber gäbe es viel zu sagen ... .

Es wäre ein mühsames Unterfangen, dies alles heute Nachmittag zu ergründen. Aber wir überlassen es Dir, diese Aufgabe zu lösen und vertrauen auf Dein Können als magischer und prophetischer Zeichendekodierer.

Leipzig, 12. Oktober 2003

Postdata: Leipzig, Alter Senatssaal 17. Dezember 2003

Lieber Carlos, auch im Namen des gesamten IAFSL möchte ich Dir dieses Buch als ein Zeichen unserer Zuneigung, Dankbarkeit und Bewunderung für Dein wissenschaftliches Werk übergeben. Damit möchten wir zugleich den Gelehrten, den Lehrer und auch den Freund ehren. Allerdings erkläre ich mich für die Folgen dieses Geschenks nicht verantwortlich.

Ich hätte nur eine Bitte: Öffne das Geschenk nicht hier, denn ich vermute, dass unsere Gäste – so geht es mir zumindest – keine böse Überraschungen mit dem Buch erleben möchten.

Du kannst uns gern auf die Folter spannen, bis Du in Berlin bist. Vielleicht löst sich das Buch auf oder Deine Telefonleitung ist plötzlich gestört, an Dich gerichtete Briefe kehren zurück, die Mails und Faxe bleiben stecken, wer weiß.

A. de T.

Postdata 2: Leipzig, Alter Senatssaal 17. Dezember 2003, kurz vor dem Ehrungsakt verfasst

Die hier vorgetragene Begebenheit, die nichts anderes wollte, als Dir von meinen Qualen auf der Suche nach einem Geschenk für Dich zu berichten, ist in einem Unikat erfasst; hier kannst Du es sehen. Außer diesem Exemplar wurden keine weiteren angefertigt. Aber einige Tage nach dem Erhalt des Unikats hörte ich von einer geheimnisvollen und hermetischen Schrift, die auf den ersten Blick glatt und eher banal war, die aber für einen erfahrenen Leser unter der Oberfläche ein Labyrinth von Texten verschämt verbarg. Ich machte mich neugierig sofort auf die Suche nach dieser ambivalenten Schrift, die mir im Ton etwas bekannt vorkam. Zunächst wurde ich nicht fündig, aber heute, unmittelbar vor diesem Ehrungsakt fand ich sie. Meine Freude überdauerte die Sekunde nicht, denn ich stelle mit Horror fest, dass es sich um Kopien meiner Begebenheit handelte. Ich nahm die zwei aufgetauchten Kopien mit, ich wollte sie sofort zerstören, aber ich beugte mich genauso schnell der schmerzlichen Einsicht der Sinnlosigkeit dieser Tat. Jemand hatte diesen Kurzbericht, den ich nur zu Deiner Ehre verfasst habe, geträumt, wie ich das Album-Borges erträumt hatte. So befinden wir uns inmitten der Ausstreuung dieses Textes in alle Himmelsrichtungen und ich fürchte, bald wird er in „Handbüchern, Anthologien, Kurzfassungen, wortgetreuen Fassungen, autorisierten Nachdrucken und Raubdrucken“, wie diese, die ich hier in der Hand halte, abgedruckt sein. Ich übergebe Dir also das Geschenk, dieses frische Postdata, das Unikat, und die Raubkopien, die das Unikat zu einer ephemeren Spur im literarischen Universum werden lassen.

A. de T.

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