Vittoria Borsò

Carlos Rincón – Desde los rincones del globo

Magnifizenz Prof. Häuser, Exzellenz, Frau Maria Dora Victorianna, Mejia Marulanda, Botschafterin der Republik Kolumbien, sehr geehrte Frau Prorektorin Prof. Schubert, Spectabilis Prof. Zybatow, meine Damen und Herren, sehr geehrter Herr Prof. Rincón, querido Carlos

Auf die Ansprache in Spanisch konnte ich nicht verzichten, denn mit der Übertragung ins Deutsche gehen die Alliterationen verloren, und im Laufe meiner Laudatio wird – wie ich hoffe – deutlich, dass die ästhetische Form eine Signatur der intellektuellen Biographie von Carlos Rincón ist, gewissermaßen eine moderne Form des Dictums von Georges-Louis Leclerc de Buffon: le style c’est l’homme.

Als ich nach einer Möglichkeit suchte, das vielseitig anregende Werk von Carlos Rincón zu würdigen, fand ich in einem Zitat eine „voie royale“, die mich zu den wichtigsten Figuren in seinem Denken führen sollte. Wie alle Königswege ist auch meiner gewiss eine unzulässige Reduktion der zahlreichen und inspirierenden Pfade des Œuvres. Ich bitte also schon jetzt um Nachsicht. 

Ich beginne also mit einem Zitat, das ich in einer der Publikationen von Carlos Rincón fand, einem längeren Aufsatz über „La vanguardia en Latinoamérica: posiciones y problemas de la crítica“ – es war ein Vortrag, den Carlos Rincón 1989 in Berlin als key note address während eines internationalen Kongresses zum Thema „Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext“ hielt.1Im Jahre 1990 übernahm er dann den renommierten Losada-Lehrstuhl an der Freien Universität und am Lateinamerika-Institut in Berlin.

Das Zitat, mit dem ich beginne, ist ein im genannten Aufsatz von Carlos Rincón zitierter2 Kommentar Walter Benjamins zur These von Johann Wolfgang von Goethe: „Alles, was eine große Wirkung getan hat, kann eigentlich gar nicht mehr beurteilt werden“.3 In seinem Essay zu „Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker“4 entwickelt Benjamin in Auseinandersetzung mit der These Goethes seine eigene Konzeption eines historischen Materialismus. Benjamin sagt zum oben genannten Satz von Goethe:

Kein Wort [Satz] ist gemäßer, die Beunruhigung hervorzurufen, die den Anfang jeder Geschichtsbetrachtung macht, welche das Recht hat, dialektisch genannt zu werden. Beunruhigung über die Zumutung an den Forschenden, die gelassene, kontemplative Haltung dem Gegenstand gegenüber aufzugeben, um der kritischen Konstellation sich bewußt zu werden, in der gerade dieses Fragment der Vergangenheit mit gerade dieser Gegenwart sich befindet“5

 

Rincón zitiert also Benjamin, der Goethe zitiert, um ihn neu zu deuten. Der Essay von Carlos Rincón, in dem sich dieses Zitat befindet, ist selbst ein Kabinettstück literarischer Schreibkultur, das an die intertextuellen Labyrinthe von Jorge Luis Borges erinnert, einem der Lehrmeister von Rincón, und dieser intertextuelle Schreibstil hat – wie auch die Literatur von Borges – ein profundes theoretisches Fundament. Carlos Rincón führt in seinem Essay von 1989 konkret vor, was die Grundlage der Epistemologie des 21. Jahrhunderts sein wird und was er in seinem zum Bestseller gewordenen Buch 1995 theoretisch vertiefen und entfalten sollte: La no simultaneidad de lo simultáneo. Posmodernidad, globalización y culturas en América Latina6: Es ist die einer globalisierten Welt und ihren Netzwerken angemessene Epistemologie, eine transversale Erkenntnismethode, die die Grenzen zwischen einzelnen Disziplinen, zwischen den Kulturen und zwischen den Zeiten überquert, wie Benjamin es für die Arbeit des Historikers gefordert hatte.

Im Zentrum der dichten Textur von Anspielungen und Zitaten des Aufsatzes von Carlos Rincón steht also Walter Benjamin. Es ist der Historiker als Sammler und auch der Walter Benjamin, dem Erich Auerbach, als er sein eigenes Exil nach Istanbul vorbereitete, den rettenden Hinweis gab, dass in São Paulo eine Professur für deutsche Literatur angeboten werde – darauf weist Rincón zu Beginn seines Aufsatzes hin.7 Die Rettung in die neue Welt sollte sich für Benjamin bekanntlich nicht verwirklichen. In dem Hinweis auf den Brief von Auerbach und auf Benjamin finden wir aber auch das Ethos der intellektuellen Tätigkeit von Carlos Rincón: die Interrelation von Geschichte, Ethik, Ästhetik und Politik.

Der ebenso luzide wie anregende Aufsatz von Carlos Rincón ist provokant, für Lateinamerika wie für Europa. Provokant ist die Hauptthese Rincóns, dass das Fragment der Vergangenheit, die man lateinamerikanische Avantgarde nennt, für die Bedürfnisse einer späteren Gegenwart konstruiert wurde: Im Lateinamerika der sechziger Jahre und der beginnenden siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts suchte man in der Avantgarde den revolutionären Impetus eines Kontinents, der mit den Problemen der strukturellen Dependenz von Europa und den USA, mit dem Zwang zur Modernisierung, mit der zentralisierenden Politik und der Überschätzung des Staates konfrontiert war. Interessanter als jede historische Klassifikation, sagt Carlos Rincón, sind die vielfältigen imaginären Welten, die die Kunst und Literatur der Avantgarden entworfen haben.

Mit Walter Benjamin, der in Lateinamerika intensiv rezipiert worden ist, können zwei Momente festgehalten werden, die auch für die Entwicklung des Denkens von Carlos Rincón selbst von Bedeutung sind:

  1. Die Geschichte ist eine Metageschichte und ein kritischer Spiegel der Gegenwart. Die benjaminsche Schwelle, nämlich die Erfahrung der Vergangenheit und die Simultaneität ihrer Wirkungen in der Gegenwart, ist auch die Leitidee der Interpretation der Postmoderne durch Carlos Rincón im bereits erwähnten Bestseller-Buch des Jahres 1995 über Postmoderne und Globalisierung.
  2. Aber auch ein zweites Moment Benjamins, das das Denken der Geschichte und der Kultur transformiert hat, ist relevant: Kultur ist keine Gegebenheit metaphysischer Art, sondern eine Praxis, die nicht ohne die Rückbindung an die materiellen Bedingungen des kulturellen, medialen und sozialpolitischen Kontextes beobachtet werden kann. Dabei gibt es keine ontologische Hierarchie zwischen der großen Literatur und der Alltagskultur, zwischen Philologie und Politik. Carlos Rincón wird dieses Moment luzide entfalten und in den 70er Jahren bereits die Literaturtheorie kulturwissenschaftlich umdeuten, als dies der deutschen Literaturwissenschaft noch sehr fern stand. Die Philologie, deren „finesse“ Rincón als Interpret verwirklicht, kann nicht mehr in den Grenzen der eigenen Disziplin verbleiben und etwa auf den Fragen der Gattungen und des Kanons ruhen, sondern: Literarische Texte stehen in Verbindung mit dem materiellen Kontext ökonomischer und politischer Handlungen und enthalten ein präzises lebensweltliches, gesellschaftliches und epistemologisches Wissen. Es gilt also dieses Wissen zu bergen, und zwar mit den feinen Instrumenten der philologischen Interpretation. Dieses andere Wissen ist beunruhigend. Es ist eine Zumutung für diejenigen Forscher, die eine gelassene, kontemplative Haltung gegenüber dem Gegenstand ihrer Forschung haben, und es ist ein Appell, diese Haltung aufzugeben, um sich den kritischen Konstellationen des Denkens und des Handelns bewusst zu werden.

Für die Tätigkeit von Carlos Rincón ist die epistemologische, d. h. die erkenntnistheoretische Schärfe seines Denkens kennzeichnend. Diese schöpft gleichermaßen aus verschiedenen Quellen: der Philosophie und der Kunst, der Literatur und der „profanen Kultur“. Der intellektuelle Impetus und eine rigueur scientifique des Denkens sind die Signatur seines gesamten Œuvres. Diese Signatur verbindet die Themen der unzähligen Aufsätze, der bedeutenden Studien und der reichen Herausgebertätigkeit von Carlos Rincón.

Lassen Sie mich in der gebotenen Kürze fünf Paradigmen seines Wirkens skizzieren:

-         als Historiker

-         als Theoretiker

-         als Interpret

-         als Kulturvermittler und

-         als akademischer Lehrer,

wobei sich alle vier Dimensionen wechselseitig durchdringen und befruchten.

1. Der Historiker

Die Geschichte steht am Anfang der wissenschaftlichen Tätigkeit Rincóns. Das ist ein Fokus, der ihn seit seiner Zusammenarbeit mit Werner Krauss begleitet, als er an der Karl-Marx-Universität Leipzig mit einer Studie zum Theater García Lorcas von Werner Krauss und Werner Bahner promoviert wurde (1965) und dann weiter von 1970-1976, als er an der Akademie der Wissenschaften der DDR mit einem Forschungsprojekt zur europäischen Aufklärung unter der Leitung von Werner Krauss am Institut für Literaturgeschichte beschäftigt war. Carlos Rincón ist beteiligt an dem im Münchner Fink-Verlag publizierten Band Die Aufklärung in Spanien, Portugal und Lateinamerika (1973). Mit Werner Krauss arbeitet er auch am Buch Spanien 1900-1965. Beitrag zu einer modernen Ideologiegeschichte8. „Moderne Ideologiegeschichte“ deutet Carlos Rincón in einer originellen Weise, wie seine umfangreiche Dissertation von 1965 zum Theater von García Lorca zeigt. Denn als Carlos Rincón 1962 nach Deutschland kommt, hat er Philosophie und Literatur an der Universidad Nacional von Bogotá studiert. Für beide Fächer war er anschließend Lehrbeauftragter an dieser Universität, außerdem Programmleiter bei TV-Educativa, Bogotá, gewesen. Als Linksintellektueller in der besten lateinamerikanischen und deshalb auch kosmopolitischen Tradition befindet sich Carlos Rincón bei seinen epistemologischen Entscheidungen auf der Höhe der großen hispanoamerikanischen Literatur der fünfziger und sechziger Jahre, von Jorge Luis Borges zu Juan Rulfo, Gabriel García Márquez und vielen anderen. Dies verändert die „ideologiekritische“ Methode. Kritik der Ideologie heißt hier Kritik der Instrumente des Denkens, und dies hat er schon in der Analyse des Theaters von Federico García Lorca entdeckt.9 Mit García Lorca hatte die damalige Kritik Probleme, war er doch ein beunruhigender Schriftsteller und Künstler, der nicht restlos von apologetischen Interpretationen vereinnahmt werden konnte – für die Marxisten zu wenig revolutionär, für die Konservativen suspekt. Im Jahre 1965 beleuchtet Carlos Rincóns Dissertation über das Theater von García Lorca das Szenario der Kritik Lorcas am Obskurantismus des bürgerlichen Spaniens, das auch das Substrat des Frankismus war und zugleich zu den tiefsten spanischen Traditionen gehörte. Rincón zeigte für García Lorca – und später für Luis Buñuel10 –, dass der Obskurantismus Spaniens nur ausgehend vom Imaginären der katholischen Religion demontiert werden kann. Die Vergangenheit ist in der Gegenwart präsent. Damit trifft Rincón den Kern der irritierenden Dialektik, mit der auch García Lorca dem Surrealismus begegnet, dessen dogmatische Utopie einer Kulturrevolution, wie sie von André Breton vertreten wurde, er nicht teilen konnte.

Europa war Mitte der 60er Jahre noch nicht ganz reif für diese epistemologiekritische Position. Man suchte das Avantgardistische entweder in der Übernahme der politischen Revolution durch die Kunst (dies eher im Osten) oder in der aseptischen Abstraktion von allem Politischem und Gesellschaftlichen durch die formalen Experimente der Kunst, wie dies z.T. die „Gruppo 63“ in Italien oder auch die Nouveaux Romanciers in Frankreich postuliert haben. So hat Europa auch die lateinamerikanischen Romane jener Zeit mit dem Begriff des Magischen Realismus formalästhetisch oder exotisch interpretiert und das metahistorische und gesellschaftliche Wissen als Kompensation der totgesagten epischen Tradition Europas verkannt.

Aber nicht nur für die europäische Epistemologie war das Denken von Carlos Rincón provokativ, sondern auch für diejenigen Lateinamerikaner, die die Apologie der lateinamerikanischen Kultur suchten und somit den nationalen und nationalistischen Denktraditionen der Europäer eher verpflichtet waren als dem universalistischen Denken, das Entgrenzungen sucht. 

2. Der Theoretiker

Carlos Rincón verbindet zweierlei: Theorie und Geschichte – eine ebenso fruchtbare wie seltene Tugend. Das Interesse an der Theorie der Literatur koinzidiert in den Jahren 1976-1980 mit seiner Tätigkeit als Ordinarius an der Universidad Central in Caracas, Venezuela, und als Professor für Literatur und Linguistik im Postgraduiertenstudium des Instituto Nacional Universitario Pedagógico von Caracas. Er setzt sich in den 70er und 80er Jahren mit der internationalen Epistemologie und Philosophie auseinander:

Die Literaturtheorie ist sein erster theoretischer Fokus. Im Jahre 1978 erscheint in Bogotá (Instituto Colombiano de Cultura): El cambio actual de la noción de literatura y otros estudios de teoría y crítica Latinoamericana. Carlos Rincón bringt die Philologie und die Literaturwissenschaft auf den Prüfstand der Theorie, aber auch die Theorie auf den Prüfstand der konkreten Texte und konzipiert eine der Kulturanalyse verpflichtete Theorie der Literatur. Auf dieses Thema kommt er Mitte der 90er Jahre mit einem Sammelband zurück: Crítica Literaria hoy. Entre las crisis y los cambios: un nuevo escenario (1995).11 Wie Balzac der Historiker seiner zeitgenössischen Gesellschaft sein wollte, so ist Rincón der Historiker seiner epistemologischen Gegenwart. Es geht ihm um den Zustand des gegenwärtigen Denkens in der Literatur- und Kulturtheorie und ihre Fähigkeit, auf die Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels zu reagieren. So kommen wir zum zweiten theoretischen Fokus, dem Fokus der 80er und 90er Jahre:

Kulturtheorie und Theorie der Moderne und Postmoderne

Von 1980-1986 ist Carlos Rincón persönlicher Referent von Ernesto Cardenal im Kulturministerium von Managua, Nicaragua. Der Intellektuelle, der sich nicht in den Elfenbeinturm zurückzieht, sondern in der Kulturpolitik Nicaraguas an der Front steht, schärft den hellwachen Blick auf die zeitgenössische Kultur. In den späten 80er Jahren beginnt seine Tätigkeit an der Freien Universität Berlin, zunächst als Gastprofessor und Gastforscher am Lateinamerika-Institut, dann ab 1990 als Lehrstuhlinhaber. Sein epistemologischer Fokus richtet sich auf das produktivste Moment der Moderne: Es ist die kritische Vernunft der Moderne, die dem Glauben an den Fortschritt widerspricht. Es ist jene Modernität, die die (avantgardistische) Subversion nicht zur Doktrin machte, und deswegen in der Postmoderne weiterlebt. Es handelt sich um die „andere“, die unbequeme Seite der Moderne. Rincón bezieht diese kritische und zugleich nicht dogmatische Epistemologie auf die Probleme der Globalisierung. Tatsächlich wird im Jahre 1995 das bereits erwähnte Buch La no simultaneidad de lo simultaneo. Posmodernidad, globalización y culturas en América Latina publiziert. Hier entspringt das subversive Denken einer grenzüberschreitenden Methode. Das Denken muss in einer globalisierten Welt die transversalen Bewegungen zwischen den Disziplinen wie zwischen den Kulturen vollziehen. Mit Blick auf die Globalisierung wird hier eine der fruchtbarsten Traditionen europäischer Kultur transformiert: Es ist jene Tradition, die im 19. Jahrhundert das Nationale in das Universelle integrierte, etwa mit dem Goetheschen Begriff der Universalliteratur. Das Universelle wird von Rincón jedoch umgedeutet als der Dialog zwischen dem Partikulären, Regionalen einerseits und dem Globalen andererseits. Eine solche Epistemologie erlaubt den Sprung über die Oppositionen zwischen der Peripherie und dem Zentrum hinaus. Es kommt zur Konzeption eines gemeinsamen Raums, in dem die Region den grenzüberschreitenden Teil einer gemeinsamen globalisierten Lebenswelt darstellt. Auch dieses Denken hat einen subversiven Zug. Es relativiert die Erfindung des Nationalen aus der Sicht eines globalen Zusammenhangs. Aber es relativiert auch das Globale aus der Sicht lokaler Existenzen, wenn die Globalisierung im Sinne der Rezentralisierung der Interessen am Ort der ökonomischen Macht verstanden wird.

In historischer Hinsicht haben wir ebenfalls die Nähe des Fernen, die im Zitat von Goethe, insbesondere im Verständnis von Benjamin hervorgehoben wird: Die Vergangenheit ist in der Gegenwart präsent. Die Figur der „Nicht-Gleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ relativiert auch postmoderne Utopien der Verabschiedung der Geschichte zugunsten der Illusion einer globalen Gegenwart, deren Geschichtsvergessenheit eine Unheil bringende Allianz mit dem Glauben an den technologischen Fortschritt eingeht.

Carlos Rincóns Beitrag zur Epistemologie der Moderne und der Postmoderne kann am Besten durch die Forderung Kants an die Aufklärung charakterisiert werden, als Kant in seinem Aufsatz Was ist Aufklärung?12 erstmalig die Philosophie dazu aufforderte, sich der Diagnose des Zustandes des aktuellen Denkens zu stellen. Die Arbeiten von Carlos Rincón dienen einer akkuraten, provokanten und rigorosen Diagnose der gegenwärtigen Epistemologie. Die Tatsache, dass Carlos Rincón durch dieses Buch als einer der prominentesten Vertreter der Postmoderne gefeiert wird, ist u.a. mit der Denkfigur der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen verbunden. Die Vergangenheit wird stets im kritischen Spiegel der Gegenwart und die Gegenwart in jenem der Vergangenheit reflektiert.

Dritter Theorie-Fokus: Mapas y pliegues. Ensayos de cartografía cultural y de lectura del neobarroco. (Bogotá, Colcultura, 1996).

Dieses Buch ist eine große Skizze der postkolonialen Theorie aus der Sicht der lateinamerikanischen Kulturen. Schon das postkoloniale Ethos des Buchs über die Postmoderne entwickelt Instrumente, die der Gefahr einer ideologiekritischen Position widerstehen, in der manche postkoloniale Positionen – etwa die von Edward Said – verstrickt bleiben, wenn sie neue Antagonismen mit umgekehrten Vorzeichen bilden und das Gute in den postkolonialen Ländern bzw. das Böse in Europa verorten.

In diesem Buch wird anhand der Literaturen des sog. Neobarock eine neue Epistemologie des Raums konzipiert: „Landkarten und Falten“. Der französische Philosoph Gilles Deleuze hatte für den Barock anhand der Philosopie von Leibniz den Begriff der Falte vorgeschlagen.13 Gemeint sind barocke Spiegelkabinette, in denen die Spiegel den Raum vielfach falten, und damit in die zentrale Perspektivierung des Raums Brüche und Gegenlager schlagen. Der Neobarock geht  vor allem auf die kubanischen Autoren Alejo Carpentier, José Lezama Lima und Severo Sarduy zurück und überträgt auf die moderne Epistemologie die Verfahren des Kolonialbarock. Carlos Rincón fokussiert hier die Transformationen des Raums. Denn schon im Kolonialbarock entstehen neue Raumkonstellationen durch die Übertragung der spanischen barocken Kultur auf den amerikanischen Kontinent. Die Bewegung der Übersetzungen ist schon im Kolonialbarock des 17. Jahrhunderts nicht eindimensional. Vielmehr erobern sich die totgesagten Traditionen und Sprachen der Einwohner Amerikas in der spanischen Sprache einen beträchtlichen Raum zurück. Die indianischen Ornamente sind Falten, die den Raum der pompösen barocken Architektur verändern. Neue kulturelle Räume entstehen, bei denen z. B. die indianischen Elemente die Dogmatik der katholischen Religion toleranter und kreativer gemacht haben. Das Buch von Carlos Rincón entwickelt eine topologische Argumentation, auch hier vorgreifend im Hinblick auf das, was zum zentralen epistemologischen Gegenstand des 21. Jahrhunderts geworden ist: den Raum. Der Raum wird durch die kulturellen Praktiken neu beschrieben. Dies ermöglicht es, andere Räume zu imaginieren, die Weltkarte nach einer polyzentrischen Perspektive zu denken. Die Grenzen werden durchlässig, die Übersetzungen und die hybriden Mischungen sind ein „kulturelles Kapital“, das Ausgangs- und Zielkultur gleichermaßen bereichert. Dieses Kapital der Kultur hat potentiell die Macht, die Welt zu transformieren. Migrationen und Bewegungen zwischen Kulturen ersetzen die antagonistische und konfliktreiche Topographie von Alterität und Identität, auch jene der Geschlechterdifferenz. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Carlos Rincón auch im Bereich der Gender-Studien wesentliche Beiträge geleistet hat.14 Er hat die Malinche aus dem Kerker befreit, in den man sie durch das Verdikt des Verrats gesteckt hatte, und er hat ihre Leistung als Kulturübersetzerin ans Licht getragen.15

Dieser postkoloniale Ansatz ist metahistorisch. Man erkennt jene Instrumente, die die Antagonismen zwischen West und Ost, Nord und Süd, zwischen der Alten und der Neuen Welt produziert haben. Die Landkarten der traditionellen Geschichten erscheinen fiktional und umgekehrt sind Migrationen und Faltungen des Raums wirklich, weil kulturell wirksam. Für die Migrationen und transkulturellen Passagen in unserer globalisierten Welt ist diese Lateinamerikanistik ein zukunftsweisendes epistemologisches Modell mit aktueller Relevanz für die dringend notwendige Politik der Verständigung zwischen den Kulturen der Welt.

3. Der Interpret

Die luzide epistemologische Position von Carlos Rincón hat ihn von Anfang an zu innovativen Interpretationen der lateinamerikanischen Literaturen inspiriert, die immer auch von exzellenten Einblicken in die europäischen Literaturen begleitet waren, weil sie – im transkulturellen Denken von Rincón – nicht voneinander getrennt betrachtet werden können. Nur als Beispiel erinnere ich an den großen Bogen, den Rincón bei der Interpretation von El general en su laberinto (1989) von Gabriel García Márquez schlägt: Von Hegel zu Brechts Umdeutung des Herr-Knecht-Motivs bis hin zum dezentrierten Blick des Dieners José Palacios und zur mise en abyme dieses Blickes. Wenn José Palacios auf den vom Tod gezeichneten Simón Bolívar schaut, so dekonstruiert er nicht allein den Mythos zugunsten des Menschen Bolívar. Vielmehr geht es in diesem Roman um die kritische Analyse des Blickes als epistemologisches Instrument selbst, das die Darstellung der Geschichte  verantwortet, und es geht in der langen Geschichte der abendländischen Emanzipation, auf die Rincóns Analyse mit Hegel und Brecht anspielt, um die Unabhängigkeit dieses Blickes von den historischen Mythen Europas wie Amerikas.16 Wir kommen damit zu einem weiteren großen Strang der Schriften von Rincón. Es sind seine zahlreichen Einzel-Interpretationen, Archive eines profunden und gelehrten Wissens wie auch scharfsinnige Portraits der sozialpolitischen und kulturellen Besonderheiten der unterschiedlichen Länder Lateinamerikas. Neben seinem Geburtsland Kolumbien, neben Argentinien, Nicaragua und Venezuela, ist Carlos Rincón ein Kenner der mexikanischen Kultur und Literatur. Hier ist sein Ansatz gewissermaßen kongenial mit zwei weiteren berühmten Carlos’: mit Carlos Fuentes teilt Carlos Rincón das universelle Wissen;17 mit Carlos Monsiváis eine Sicht auf die Kultur jenseits der Hierarchien zwischen Elite und Massenkultur. Carlos Rincón war einer der ersten, der Carlos Monsiváis und die epistemologische Bedeutung seiner „cultura popular“ durch Publikationen und zahlreiche Einladungen nach Deutschland bekannt gemacht hat. Ich erinnere mich an die Buchmesse 1992 mit dem Schwerpunkt Mexiko. Carlos Monsiváis akzeptierte meine Einladung zu einer Podiumsdiskussion in Frankfurt nur, weil sein Freund Carlos Rincón mit ihm auf dem Podium war.

4. Der Kulturvermittler

Hier kristallisiert sich eine vierte Dimension im Werk von Carlos Rincón heraus: seine Leistung als konkreter Kulturvermittler. Von Anfang an, zuerst in Leipzig und dann in Berlin, hat Carlos Rincón unermüdlich Anthologien lateinamerikanischer Prosa editiert. In seinem noch heute maßgeblichen Buch Metamorphose der Nelke, Moderne spanische Lyrik18 wurden bis dahin in Deutschland weniger bekannte Autoren aus Spanien und Hispanoamerika wie Rafael Alberti, Pablo Neruda, Federico García Lorca, Jorge Luis Borges, Augusto Monterroso, Gabriela Mistral, Rubén Darío, Juan Ramón Jiménez und Federico Pessoa vorgestellt. Zu erwähnen sind auch, die Publikationen betreffend, die Moderne Lyrik aus Nicaragua,19 oder Fünzig Erzähler aus Mittelamerika20 mit Texten von Juan Rulfo, Ernesto Cardenal und José María Arguedas, García Márquez, Julio Cortázar und vielen anderen. Carlos Rincón setzt das Instrument der Übersetzungen und der anthologischen Sammlungen gezielt ein. Zwischenräume werden damit eröffnet; es sind „Passagen“ für die Erfahrung der kulturellen Differenzen, für die Annäherung an die Pluralität des lateinamerikanischen Kontinents. 

Vermittler ist schließlich Carlos Rincón auch auf epistemologischer Ebene: wie die transversale Methodologie Borges’ den französischen Diskurstheoretiker Michel Foucault zu seinem Konzept der „Heterotopie“ inspiriert hat, so hat Carlos Rincón die kreativen epistemologischen Entwürfe Lateinamerikas nach Europa gebracht, und umgekehrt wieder zurückgeführt, etwa während einer Reihe internationaler Kolloquien, die er in den 90er Jahren, in Bogotá oder Cartagena, organisiert hat. Aber auch der Weg über die USA während seiner zahlreichen Vorträge und Gastprofessuren an den renommierten Universitäten war bedeutsam.

5. Der akademische Lehrer

Die rigueur scientifique seiner Wissenschaft war und ist zukunftsweisend und anregend auch für die zahlreichen jungen Studierenden und NachwuchswissenschaftlerInnen, die das Privileg hatten und haben, mit ihm zu arbeiten. Denn die gelungene Verbindung der Spezies „homo academicus” mit dem kreativen Potential des literarischen „homo ludens” ist nicht nur eine Herausforderung für die Wissenschaft, sondern auch eine wichtige Tugend des akademischen Lehrers.

Ich fasse zusammen:

Die intellektuelle Biographie von Carlos Rincón findet von Anfang an in der Interrelation von Ästhetik und Ethik, Literatur und Gesellschaft eine Epistemologie, die über die Instrumente des Denkens und nicht allein über die Gegenstände reflektiert. Dieses Wissen leistet Widerstand gegen jede Form von Provinzialisierung des Denkens, das – hier in Europa wie dort in

Amerika – in den eigenen nationalen, regionalen oder disziplinären Grenzen gefangen bleibt. Die Literaturen der Welt sind sein Vorbild. Sie sind jene Regionen der Welt, die überall zu Hause sind. Diese Freiheit ist die Signatur des Denkens von Carlos Rincón selbst, der sich mit profunder Gelehrsamkeit zwischen den Traditionen bewegt und gemeinsame Denkbewegungen dort verspürt, wo orthodoxes, traditionelles Wissen sie niemals vermuten würde.21

Ich beglückwünsche die Universität Leipzig für die Entscheidung, Prof. Dr. Carlos Rincón den Titel und die Würde eines Ehrendoktors zu verleihen. Möge Dich, lieber Carlos Rincón, die Ehre, die Dir an Deiner alma mater zuteil geworden ist, weiter inspirieren, und möge die Epistemologie hier in Europa noch lange belebt werden von der Weite Deines Denkens aus jenen Ecken des Globus, die wir gewöhnt sind, Lateinamerika zu nennen. Concluyo, querido Carlos, en castellano: con la esperanza de que la epistemología en Europa siga recibiendo el grande aliento de tu pensamiento desde aquellos rincones del globo que estamos acostumbrado a llamar América Latina.

Anmerkungen: 

1. Carlos Rincón. „La vanguardia en Latinoamérica: posiciones y problemas de la crítica.“ In: Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext. Frankfurt/M.: Vervuert, 1991, 51-78.

2. Carlos Rincón, ebd., S. 52.

3. Goethe äußerte diesen Satz im Gespräch über Shakespeare mit dem Kanzler von Müller, so Walter Benjamin („Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker“. In: Walter Benjamin. Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2. Frankfurt: Suhrkamp, 1988, 302-343; hier S. 303).

4. Erstmals 1937 erschienen (Zeitschrift für Sozialforschung [6]).

5. Walter Benjamin, ebd., S. 303.

6. Das Buch ist im Verlag der Universidad Nacional von Bogotá erschienen.

7. Carlos Rincón, ebd. 1995, S. 51.

8. Das Buch ist im Jahre 1972 sowohl im Akademie-Verlag, Berlin, als auch im Fink-Verlag, München, erschienen.

9. Carlos Rincón. Das Theater García Lorcas. Berlin: Rütten & Loening, 1975.

10. Luis Buñuel. Wenn es einen Gott gibt, soll mich auf der Stelle der Blitz treffen. Hg. und mit einem Nachwort von Carlos Rincón. Berlin: Wagenbach, 1994.

11. Das Buch ist in Stanford UP erschienen.

12. Immanuel Kant. Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie“. Göttingen : VR-Verlag, 1967 (im Jahre 1784 in der „Berliner Monatsschrift“ publiziert).

 13. Gilles Deleuze. Le Pli. Leibniz et le baroque. Paris: Minuit, 1998.

14. Barbara Dröscher /Carlos Rincón (Hg.). Acercamiento a Carmen Boullosa – Actas del Simposio “Conjugarse al infinitivo”. Berlin: Ed. Tranvía, 1999.

15. Barbara Dröscher /Carlos Rincón (Hg.). La Malinche – Übersetzung, Interkulturalität und Geschlecht. Berlin: Ed. Tranvía, 2001.

16.  „El general sí tiene quien lo lea.“ In: Karl Kohut (Hg.). Literatura colombiana hoy. Imaginación y barbarie, Frankfurt/ M.: Vervuert Verlag, 1994, S. 84-106.

17. Einer Revision des Œuvres von Fuentes war die an der FU organisierte Vorlesungsreihe gewidmet (Barbara Dröscher, Carlos Rincón (Hg.). Carlos Fuentes’ Welten. Kritische Relektüren. Berlin: Ed. Tranvía, 2003.

18. 1968 im Reclam-Verlag, Leipzig, erschienen.

19. 1981 im Reclam-Verlag, Leipzig, erschienen. Vgl. auch: Carlos Rincón. Nicaragua. Vor uns die Mühen der Ebene. Wuppertal: Hammer, 1983.

20. 1988 im Verlag Volk und Welt, Berlin, erschienen.

21. Carlos Rincón. García Márquez, Hawthorne, Shakespeare, de la Vega & Co unltd. Santafé de Bogotá: Inst. Caro y Cuervo, 1999.

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