Magnifizenz
Prof. Häuser, Exzellenz, Frau Maria Dora Victorianna, Mejia Marulanda,
Botschafterin der Republik Kolumbien, sehr geehrte Frau Prorektorin Prof.
Schubert, Spectabilis Prof. Zybatow, meine Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Prof. Rincón, querido
Carlos
Auf die Ansprache in Spanisch konnte ich nicht verzichten, denn mit der Übertragung ins Deutsche gehen die Alliterationen verloren, und im Laufe meiner Laudatio wird – wie ich hoffe – deutlich, dass die ästhetische Form eine Signatur der intellektuellen Biographie von Carlos Rincón ist, gewissermaßen eine moderne Form des Dictums von Georges-Louis Leclerc de Buffon: le style c’est l’homme.
Als ich nach einer Möglichkeit suchte, das
vielseitig anregende Werk von Carlos Rincón zu würdigen, fand ich in einem
Zitat eine „voie royale“, die mich zu den wichtigsten Figuren in seinem
Denken führen sollte. Wie alle Königswege ist auch meiner gewiss eine unzulässige
Reduktion der zahlreichen und inspirierenden Pfade des Œuvres. Ich bitte also
schon jetzt um Nachsicht.
Ich beginne also mit einem Zitat, das ich in
einer der Publikationen von Carlos Rincón fand, einem längeren Aufsatz über
„La vanguardia en Latinoamérica: posiciones y problemas de la crítica“ –
es war ein Vortrag, den Carlos Rincón 1989 in Berlin als key
note address während eines internationalen Kongresses zum Thema „Europäische
Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext“ hielt.1Im Jahre 1990 übernahm
er dann den renommierten Losada-Lehrstuhl an der Freien Universität
und am Lateinamerika-Institut in Berlin.
Das Zitat, mit dem ich beginne, ist ein im
genannten Aufsatz von Carlos Rincón zitierter2 Kommentar Walter
Benjamins zur These von Johann Wolfgang von Goethe: „Alles, was eine große
Wirkung getan hat, kann eigentlich gar nicht mehr beurteilt werden“.3
In seinem Essay zu „Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker“4
entwickelt Benjamin in Auseinandersetzung mit der These Goethes seine eigene
Konzeption eines historischen Materialismus. Benjamin sagt zum oben genannten
Satz von Goethe:
Kein
Wort [Satz] ist gemäßer, die Beunruhigung hervorzurufen, die den Anfang jeder
Geschichtsbetrachtung macht, welche das Recht hat, dialektisch genannt zu
werden. Beunruhigung über die Zumutung an den Forschenden, die gelassene,
kontemplative Haltung dem Gegenstand gegenüber aufzugeben, um der kritischen
Konstellation sich bewußt zu werden, in der gerade dieses Fragment der
Vergangenheit mit gerade dieser Gegenwart sich befindet“5
Rincón
zitiert also Benjamin, der Goethe zitiert, um ihn neu zu deuten. Der Essay von
Carlos Rincón, in dem sich dieses Zitat befindet, ist selbst ein Kabinettstück
literarischer Schreibkultur, das an die intertextuellen Labyrinthe von Jorge
Luis Borges erinnert, einem der Lehrmeister von Rincón, und dieser
intertextuelle Schreibstil hat – wie auch die Literatur von Borges – ein
profundes theoretisches Fundament. Carlos Rincón führt in seinem Essay von
1989 konkret vor, was die Grundlage der Epistemologie des 21. Jahrhunderts sein
wird und was er in seinem zum Bestseller gewordenen Buch 1995 theoretisch
vertiefen und entfalten sollte: La no
simultaneidad de lo simultáneo. Posmodernidad, globalización y culturas en América
Latina6: Es ist die einer globalisierten Welt und ihren
Netzwerken angemessene Epistemologie, eine transversale Erkenntnismethode, die
die Grenzen zwischen einzelnen Disziplinen, zwischen den Kulturen und zwischen
den Zeiten überquert, wie Benjamin es für die Arbeit des Historikers gefordert
hatte.
Im
Zentrum der dichten Textur von Anspielungen und Zitaten des Aufsatzes von Carlos
Rincón steht also Walter Benjamin. Es ist der Historiker als Sammler und auch
der Walter Benjamin, dem Erich Auerbach, als er sein eigenes Exil nach Istanbul
vorbereitete, den rettenden Hinweis gab, dass in São Paulo eine Professur für
deutsche Literatur angeboten werde – darauf weist Rincón zu Beginn seines
Aufsatzes hin.7 Die Rettung in die neue Welt sollte sich für
Benjamin bekanntlich nicht verwirklichen. In dem Hinweis auf den Brief von
Auerbach und auf Benjamin finden wir aber auch das Ethos der intellektuellen Tätigkeit
von Carlos Rincón: die Interrelation von Geschichte, Ethik, Ästhetik und
Politik.
Der ebenso luzide wie anregende Aufsatz von Carlos Rincón ist provokant, für Lateinamerika wie für Europa. Provokant ist die Hauptthese Rincóns, dass das Fragment der Vergangenheit, die man lateinamerikanische Avantgarde nennt, für die Bedürfnisse einer späteren Gegenwart konstruiert wurde: Im Lateinamerika der sechziger Jahre und der beginnenden siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts suchte man in der Avantgarde den revolutionären Impetus eines Kontinents, der mit den Problemen der strukturellen Dependenz von Europa und den USA, mit dem Zwang zur Modernisierung, mit der zentralisierenden Politik und der Überschätzung des Staates konfrontiert war. Interessanter als jede historische Klassifikation, sagt Carlos Rincón, sind die vielfältigen imaginären Welten, die die Kunst und Literatur der Avantgarden entworfen haben.
Mit Walter Benjamin, der in Lateinamerika intensiv rezipiert worden ist, können zwei Momente festgehalten werden, die auch für die Entwicklung des Denkens von Carlos Rincón selbst von Bedeutung sind:
Für
die Tätigkeit von Carlos Rincón ist die epistemologische, d. h. die
erkenntnistheoretische Schärfe seines Denkens kennzeichnend. Diese schöpft
gleichermaßen aus verschiedenen Quellen: der Philosophie und der Kunst, der
Literatur und der „profanen Kultur“. Der intellektuelle Impetus und eine rigueur scientifique des Denkens sind die Signatur seines gesamten
Œuvres. Diese Signatur verbindet die Themen
der unzähligen Aufsätze, der bedeutenden Studien und der reichen Herausgebertätigkeit
von Carlos Rincón.
Lassen
Sie mich in der gebotenen Kürze fünf Paradigmen seines Wirkens skizzieren:
-
als Historiker
-
als Theoretiker
-
als Interpret
-
als Kulturvermittler und
-
als akademischer Lehrer,
wobei
sich alle vier Dimensionen wechselseitig durchdringen und befruchten.
1.
Der Historiker
Die
Geschichte steht am Anfang der wissenschaftlichen Tätigkeit Rincóns. Das ist
ein Fokus, der ihn seit seiner Zusammenarbeit mit Werner Krauss begleitet, als
er an der Karl-Marx-Universität Leipzig mit einer Studie zum Theater García
Lorcas von Werner Krauss und Werner Bahner promoviert wurde (1965) und dann
weiter von 1970-1976, als er an der Akademie der Wissenschaften der DDR mit
einem Forschungsprojekt zur europäischen Aufklärung unter der Leitung von
Werner Krauss am Institut für Literaturgeschichte beschäftigt war. Carlos Rincón
ist beteiligt an dem im Münchner Fink-Verlag publizierten Band Die Aufklärung in Spanien, Portugal und Lateinamerika (1973). Mit
Werner Krauss arbeitet er auch am Buch Spanien
1900-1965. Beitrag zu einer modernen Ideologiegeschichte8.
„Moderne Ideologiegeschichte“ deutet Carlos Rincón in einer originellen
Weise, wie seine umfangreiche Dissertation von 1965 zum Theater von García
Lorca zeigt. Denn als Carlos Rincón 1962 nach Deutschland kommt, hat er
Philosophie und Literatur an der Universidad Nacional von Bogotá studiert. Für
beide Fächer war er anschließend Lehrbeauftragter an dieser Universität, außerdem
Programmleiter bei TV-Educativa, Bogotá, gewesen. Als Linksintellektueller in
der besten lateinamerikanischen und deshalb auch kosmopolitischen Tradition
befindet sich Carlos Rincón bei seinen epistemologischen Entscheidungen auf der
Höhe der großen hispanoamerikanischen Literatur der fünfziger und sechziger
Jahre, von Jorge Luis Borges zu Juan Rulfo, Gabriel García Márquez und vielen
anderen. Dies verändert die „ideologiekritische“ Methode. Kritik der
Ideologie heißt hier Kritik der Instrumente des Denkens, und dies hat er schon
in der Analyse des Theaters von Federico García Lorca entdeckt.9 Mit
García Lorca hatte die damalige Kritik Probleme, war er doch ein beunruhigender
Schriftsteller und Künstler, der nicht restlos von apologetischen
Interpretationen vereinnahmt werden konnte – für die Marxisten zu wenig
revolutionär, für die Konservativen suspekt. Im Jahre 1965 beleuchtet Carlos
Rincóns Dissertation über das Theater von García Lorca das Szenario der
Kritik Lorcas am Obskurantismus des bürgerlichen Spaniens, das auch das
Substrat des Frankismus war und zugleich zu den tiefsten spanischen Traditionen
gehörte. Rincón zeigte für García Lorca – und später für Luis Buñuel10
–, dass der Obskurantismus Spaniens nur ausgehend vom Imaginären der
katholischen Religion demontiert werden kann. Die Vergangenheit ist in der
Gegenwart präsent. Damit trifft Rincón den Kern der irritierenden Dialektik,
mit der auch García Lorca dem Surrealismus begegnet, dessen dogmatische Utopie
einer Kulturrevolution, wie sie von André Breton vertreten wurde, er nicht
teilen konnte.
Europa
war Mitte der 60er Jahre noch nicht ganz reif für diese epistemologiekritische
Position. Man suchte das Avantgardistische entweder in der Übernahme der
politischen Revolution durch die Kunst (dies eher im Osten) oder in der
aseptischen Abstraktion von allem Politischem und Gesellschaftlichen durch die
formalen Experimente der Kunst, wie dies z.T. die „Gruppo 63“ in Italien
oder auch die Nouveaux Romanciers in
Frankreich postuliert haben. So hat Europa auch die lateinamerikanischen Romane
jener Zeit mit dem Begriff des Magischen Realismus formalästhetisch oder
exotisch interpretiert und das metahistorische und gesellschaftliche Wissen als
Kompensation der totgesagten epischen Tradition Europas verkannt.
Aber
nicht nur für die europäische Epistemologie war das Denken von Carlos Rincón
provokativ, sondern auch für diejenigen Lateinamerikaner, die die Apologie der
lateinamerikanischen Kultur suchten und somit den nationalen und
nationalistischen Denktraditionen der Europäer eher verpflichtet waren als dem
universalistischen Denken, das Entgrenzungen sucht.
2.
Der Theoretiker
Carlos
Rincón verbindet zweierlei: Theorie und Geschichte – eine ebenso fruchtbare
wie seltene Tugend. Das Interesse an der Theorie der Literatur koinzidiert in
den Jahren 1976-1980 mit seiner Tätigkeit als Ordinarius an der Universidad
Central in Caracas, Venezuela, und als Professor für Literatur und Linguistik
im Postgraduiertenstudium des Instituto Nacional Universitario Pedagógico von
Caracas. Er setzt sich in den 70er
und 80er Jahren mit der internationalen Epistemologie und Philosophie
auseinander:
Die
Literaturtheorie ist sein erster theoretischer Fokus. Im
Jahre 1978 erscheint in Bogotá
(Instituto Colombiano de Cultura): El
cambio actual de la noción de literatura y otros estudios de teoría y crítica
Latinoamericana. Carlos Rincón bringt die Philologie und die
Literaturwissenschaft auf den Prüfstand der Theorie, aber auch die Theorie auf
den Prüfstand der konkreten Texte und konzipiert eine der Kulturanalyse
verpflichtete Theorie der Literatur. Auf dieses Thema kommt er Mitte der 90er
Jahre mit einem Sammelband zurück: Crítica
Literaria hoy. Entre las crisis y los cambios: un nuevo escenario (1995).11
Wie Balzac der Historiker seiner zeitgenössischen Gesellschaft sein wollte, so
ist Rincón der Historiker seiner epistemologischen Gegenwart. Es geht ihm um
den Zustand des gegenwärtigen Denkens in der Literatur- und Kulturtheorie und
ihre Fähigkeit, auf die Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels zu
reagieren. So kommen wir zum zweiten theoretischen Fokus, dem Fokus der 80er und
90er Jahre:
Kulturtheorie und Theorie der Moderne und
Postmoderne
Von 1980-1986 ist Carlos Rincón persönlicher Referent von Ernesto Cardenal im Kulturministerium von Managua, Nicaragua. Der Intellektuelle, der sich nicht in den Elfenbeinturm zurückzieht, sondern in der Kulturpolitik Nicaraguas an der Front steht, schärft den hellwachen Blick auf die zeitgenössische Kultur. In den späten 80er Jahren beginnt seine Tätigkeit an der Freien Universität Berlin, zunächst als Gastprofessor und Gastforscher am Lateinamerika-Institut, dann ab 1990 als Lehrstuhlinhaber. Sein epistemologischer Fokus richtet sich auf das produktivste Moment der Moderne: Es ist die kritische Vernunft der Moderne, die dem Glauben an den Fortschritt widerspricht. Es ist jene Modernität, die die (avantgardistische) Subversion nicht zur Doktrin machte, und deswegen in der Postmoderne weiterlebt. Es handelt sich um die „andere“, die unbequeme Seite der Moderne. Rincón bezieht diese kritische und zugleich nicht dogmatische Epistemologie auf die Probleme der Globalisierung. Tatsächlich wird im Jahre 1995 das bereits erwähnte Buch La no simultaneidad de lo simultaneo. Posmodernidad, globalización y culturas en América Latina publiziert. Hier entspringt das subversive Denken einer grenzüberschreitenden Methode. Das Denken muss in einer globalisierten Welt die transversalen Bewegungen zwischen den Disziplinen wie zwischen den Kulturen vollziehen. Mit Blick auf die Globalisierung wird hier eine der fruchtbarsten Traditionen europäischer Kultur transformiert: Es ist jene Tradition, die im 19. Jahrhundert das Nationale in das Universelle integrierte, etwa mit dem Goetheschen Begriff der Universalliteratur. Das Universelle wird von Rincón jedoch umgedeutet als der Dialog zwischen dem Partikulären, Regionalen einerseits und dem Globalen andererseits. Eine solche Epistemologie erlaubt den Sprung über die Oppositionen zwischen der Peripherie und dem Zentrum hinaus. Es kommt zur Konzeption eines gemeinsamen Raums, in dem die Region den grenzüberschreitenden Teil einer gemeinsamen globalisierten Lebenswelt darstellt. Auch dieses Denken hat einen subversiven Zug. Es relativiert die Erfindung des Nationalen aus der Sicht eines globalen Zusammenhangs. Aber es relativiert auch das Globale aus der Sicht lokaler Existenzen, wenn die Globalisierung im Sinne der Rezentralisierung der Interessen am Ort der ökonomischen Macht verstanden wird.
In historischer Hinsicht haben wir ebenfalls die Nähe des Fernen, die im Zitat von Goethe, insbesondere im Verständnis von Benjamin hervorgehoben wird: Die Vergangenheit ist in der Gegenwart präsent. Die Figur der „Nicht-Gleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ relativiert auch postmoderne Utopien der Verabschiedung der Geschichte zugunsten der Illusion einer globalen Gegenwart, deren Geschichtsvergessenheit eine Unheil bringende Allianz mit dem Glauben an den technologischen Fortschritt eingeht.
Carlos
Rincóns Beitrag zur Epistemologie der Moderne und der Postmoderne kann am
Besten durch die Forderung Kants an die Aufklärung charakterisiert werden, als
Kant in seinem Aufsatz Was ist Aufklärung?12
erstmalig die Philosophie dazu aufforderte, sich der Diagnose des Zustandes des
aktuellen Denkens zu stellen. Die Arbeiten von Carlos Rincón dienen einer
akkuraten, provokanten und rigorosen Diagnose der gegenwärtigen Epistemologie.
Die Tatsache, dass Carlos Rincón durch dieses Buch als einer der prominentesten
Vertreter der Postmoderne gefeiert wird, ist u.a. mit der Denkfigur der
Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen verbunden. Die Vergangenheit wird stets im
kritischen Spiegel der Gegenwart und die Gegenwart in jenem der Vergangenheit
reflektiert.
Dritter Theorie-Fokus: Mapas y pliegues. Ensayos de cartografía cultural y de lectura del neobarroco. (Bogotá, Colcultura, 1996).
Dieses Buch ist eine große Skizze der postkolonialen Theorie aus der Sicht der lateinamerikanischen Kulturen. Schon das postkoloniale Ethos des Buchs über die Postmoderne entwickelt Instrumente, die der Gefahr einer ideologiekritischen Position widerstehen, in der manche postkoloniale Positionen – etwa die von Edward Said – verstrickt bleiben, wenn sie neue Antagonismen mit umgekehrten Vorzeichen bilden und das Gute in den postkolonialen Ländern bzw. das Böse in Europa verorten.
In
diesem Buch wird anhand der Literaturen des sog. Neobarock eine neue
Epistemologie des Raums konzipiert: „Landkarten und Falten“. Der französische
Philosoph Gilles Deleuze hatte für den Barock anhand der Philosopie von Leibniz
den Begriff der Falte vorgeschlagen.13 Gemeint sind barocke
Spiegelkabinette, in denen die Spiegel den Raum vielfach falten, und damit in
die zentrale Perspektivierung des Raums Brüche und Gegenlager schlagen. Der
Neobarock geht vor allem auf die
kubanischen Autoren Alejo Carpentier, José Lezama Lima und Severo Sarduy zurück
und überträgt auf die moderne Epistemologie die Verfahren des Kolonialbarock.
Carlos Rincón fokussiert hier die Transformationen des Raums. Denn schon im
Kolonialbarock entstehen neue Raumkonstellationen durch die Übertragung der
spanischen barocken Kultur auf den amerikanischen Kontinent. Die Bewegung der Übersetzungen
ist schon im Kolonialbarock des 17. Jahrhunderts nicht eindimensional. Vielmehr
erobern sich die totgesagten Traditionen und Sprachen der Einwohner Amerikas in
der spanischen Sprache einen beträchtlichen Raum zurück. Die indianischen
Ornamente sind Falten, die den Raum der pompösen barocken Architektur verändern.
Neue kulturelle Räume entstehen, bei denen z. B. die indianischen Elemente die
Dogmatik der katholischen Religion toleranter und kreativer gemacht haben. Das
Buch von Carlos Rincón entwickelt eine topologische Argumentation, auch hier
vorgreifend im Hinblick auf das, was zum zentralen epistemologischen Gegenstand
des 21. Jahrhunderts geworden ist: den Raum. Der Raum wird durch die kulturellen
Praktiken neu beschrieben. Dies ermöglicht es, andere Räume zu imaginieren,
die Weltkarte nach einer polyzentrischen Perspektive zu denken. Die Grenzen
werden durchlässig, die Übersetzungen und die hybriden Mischungen sind ein
„kulturelles Kapital“, das Ausgangs- und Zielkultur gleichermaßen
bereichert. Dieses Kapital der Kultur hat potentiell die Macht, die Welt zu
transformieren. Migrationen und Bewegungen zwischen Kulturen ersetzen die
antagonistische und konfliktreiche Topographie von Alterität und Identität,
auch jene der Geschlechterdifferenz. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass
Carlos Rincón auch im Bereich der Gender-Studien wesentliche Beiträge
geleistet hat.14 Er hat die Malinche aus dem Kerker befreit, in den
man sie durch das Verdikt des Verrats gesteckt hatte, und er hat ihre Leistung
als Kulturübersetzerin ans Licht getragen.15
Dieser
postkoloniale Ansatz ist metahistorisch. Man erkennt jene Instrumente, die die
Antagonismen zwischen West und Ost, Nord und Süd, zwischen der Alten und der
Neuen Welt produziert haben. Die Landkarten der traditionellen Geschichten
erscheinen fiktional und umgekehrt sind Migrationen und Faltungen des Raums
wirklich, weil kulturell wirksam. Für die Migrationen und transkulturellen
Passagen in unserer globalisierten Welt ist diese Lateinamerikanistik ein
zukunftsweisendes epistemologisches Modell mit aktueller Relevanz für die
dringend notwendige Politik der Verständigung zwischen den Kulturen der Welt.
3. Der Interpret
Die
luzide epistemologische Position von Carlos Rincón hat ihn von Anfang an zu
innovativen Interpretationen der lateinamerikanischen Literaturen inspiriert,
die immer auch von exzellenten Einblicken in die europäischen Literaturen
begleitet waren, weil sie – im transkulturellen Denken von Rincón – nicht
voneinander getrennt betrachtet werden können. Nur als Beispiel erinnere ich an
den großen Bogen, den Rincón bei der Interpretation von El
general en su laberinto (1989) von Gabriel García Márquez schlägt: Von
Hegel zu Brechts Umdeutung des Herr-Knecht-Motivs bis hin zum dezentrierten
Blick des Dieners José Palacios und zur mise
en abyme dieses Blickes. Wenn José Palacios auf den vom Tod gezeichneten
Simón Bolívar schaut, so dekonstruiert er nicht allein den Mythos zugunsten
des Menschen Bolívar. Vielmehr geht es in diesem Roman um die kritische Analyse
des Blickes als epistemologisches Instrument selbst, das die Darstellung der
Geschichte verantwortet, und es geht in der
langen Geschichte der abendländischen Emanzipation, auf die Rincóns Analyse
mit Hegel und Brecht anspielt, um die Unabhängigkeit dieses Blickes von den
historischen Mythen Europas wie Amerikas.16 Wir kommen damit zu einem
weiteren großen Strang der Schriften von Rincón. Es sind seine zahlreichen
Einzel-Interpretationen, Archive eines profunden und gelehrten Wissens wie auch
scharfsinnige Portraits der sozialpolitischen und kulturellen Besonderheiten der
unterschiedlichen Länder Lateinamerikas. Neben seinem Geburtsland Kolumbien,
neben Argentinien, Nicaragua und Venezuela, ist Carlos Rincón ein Kenner der
mexikanischen Kultur und Literatur. Hier ist sein Ansatz gewissermaßen
kongenial mit zwei weiteren berühmten Carlos’: mit Carlos Fuentes teilt
Carlos Rincón das universelle Wissen;17 mit Carlos Monsiváis eine
Sicht auf die Kultur jenseits der Hierarchien zwischen Elite und Massenkultur.
Carlos Rincón war einer der ersten, der Carlos Monsiváis und die
epistemologische Bedeutung seiner „cultura popular“ durch Publikationen und
zahlreiche Einladungen nach Deutschland bekannt gemacht hat. Ich erinnere mich
an die Buchmesse 1992 mit dem Schwerpunkt Mexiko. Carlos Monsiváis akzeptierte
meine Einladung zu einer Podiumsdiskussion in Frankfurt nur, weil sein Freund
Carlos Rincón mit ihm auf dem Podium war.
4. Der Kulturvermittler
Hier
kristallisiert sich eine vierte Dimension im Werk von Carlos Rincón heraus:
seine Leistung als konkreter Kulturvermittler. Von Anfang an, zuerst in Leipzig
und dann in Berlin, hat Carlos Rincón unermüdlich Anthologien
lateinamerikanischer Prosa editiert. In seinem noch heute maßgeblichen Buch Metamorphose
der Nelke, Moderne spanische Lyrik18 wurden bis dahin in Deutschland weniger bekannte Autoren
aus Spanien und Hispanoamerika wie Rafael Alberti, Pablo Neruda, Federico García
Lorca, Jorge Luis Borges, Augusto Monterroso, Gabriela Mistral, Rubén Darío,
Juan Ramón Jiménez und Federico Pessoa vorgestellt. Zu erwähnen sind auch,
die Publikationen betreffend, die Moderne Lyrik aus Nicaragua,19
oder Fünzig Erzähler aus
Mittelamerika20
mit Texten von Juan Rulfo, Ernesto Cardenal und José María Arguedas, García Márquez,
Julio Cortázar und vielen anderen. Carlos Rincón setzt das Instrument der Übersetzungen
und der anthologischen Sammlungen gezielt ein. Zwischenräume werden damit eröffnet;
es sind „Passagen“ für die Erfahrung der kulturellen Differenzen, für die
Annäherung an die Pluralität des lateinamerikanischen Kontinents.
Vermittler
ist schließlich Carlos Rincón auch auf epistemologischer Ebene: wie die
transversale Methodologie Borges’ den französischen Diskurstheoretiker Michel
Foucault zu seinem Konzept der „Heterotopie“ inspiriert hat, so hat Carlos
Rincón die kreativen epistemologischen Entwürfe Lateinamerikas nach Europa
gebracht, und umgekehrt wieder zurückgeführt, etwa während einer Reihe
internationaler Kolloquien, die er in den 90er Jahren, in Bogotá oder
Cartagena, organisiert hat. Aber auch der Weg über die USA während seiner
zahlreichen Vorträge und Gastprofessuren an den renommierten Universitäten war
bedeutsam.
Die
rigueur scientifique seiner
Wissenschaft war und ist zukunftsweisend und anregend auch für die zahlreichen
jungen Studierenden und NachwuchswissenschaftlerInnen, die das Privileg hatten
und haben, mit ihm zu arbeiten. Denn die gelungene Verbindung der Spezies
„homo academicus” mit dem kreativen Potential des literarischen „homo
ludens” ist nicht nur eine Herausforderung für die Wissenschaft, sondern auch
eine wichtige Tugend des akademischen Lehrers.
Ich
fasse zusammen:
Die
intellektuelle Biographie von Carlos Rincón findet von Anfang an in der
Interrelation von Ästhetik und Ethik, Literatur und Gesellschaft eine
Epistemologie, die über die Instrumente des Denkens und nicht allein über die
Gegenstände reflektiert. Dieses Wissen leistet Widerstand gegen jede Form von
Provinzialisierung des Denkens, das – hier in Europa wie dort in
Amerika
– in den eigenen nationalen, regionalen oder disziplinären Grenzen gefangen
bleibt. Die Literaturen der Welt sind sein Vorbild. Sie sind jene Regionen der
Welt, die überall zu Hause sind. Diese Freiheit ist die Signatur des Denkens
von Carlos Rincón selbst, der sich mit profunder Gelehrsamkeit zwischen den
Traditionen bewegt und gemeinsame Denkbewegungen dort verspürt, wo orthodoxes,
traditionelles Wissen sie niemals vermuten würde.21
Ich beglückwünsche die Universität Leipzig für die Entscheidung, Prof. Dr. Carlos Rincón den Titel und die Würde eines Ehrendoktors zu verleihen. Möge Dich, lieber Carlos Rincón, die Ehre, die Dir an Deiner alma mater zuteil geworden ist, weiter inspirieren, und möge die Epistemologie hier in Europa noch lange belebt werden von der Weite Deines Denkens aus jenen Ecken des Globus, die wir gewöhnt sind, Lateinamerika zu nennen. Concluyo, querido Carlos, en castellano: con la esperanza de que la epistemología en Europa siga recibiendo el grande aliento de tu pensamiento desde aquellos rincones del globo que estamos acostumbrado a llamar América Latina.
Anmerkungen:
1.
Carlos Rincón. „La vanguardia en Latinoamérica: posiciones y problemas de la
crítica.“ In: Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Europäische
Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext. Frankfurt/M.: Vervuert, 1991,
51-78.
2.
Carlos
Rincón, ebd., S. 52.
3.
Goethe äußerte diesen Satz im Gespräch über Shakespeare mit dem Kanzler von
Müller, so Walter Benjamin („Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker“.
In: Walter Benjamin. Angelus Novus.
Ausgewählte Schriften 2. Frankfurt: Suhrkamp, 1988, 302-343; hier S. 303).
4.
Erstmals 1937 erschienen (Zeitschrift für
Sozialforschung [6]).
5.
Walter Benjamin, ebd., S. 303.
6.
Das Buch ist im Verlag der Universidad Nacional von Bogotá erschienen.
7.
Carlos
Rincón, ebd. 1995, S. 51.
8.
Das Buch ist im Jahre 1972 sowohl im Akademie-Verlag, Berlin, als auch im
Fink-Verlag, München, erschienen.
9.
Carlos Rincón. Das Theater García Lorcas.
Berlin: Rütten & Loening, 1975.
10.
Luis Buñuel. Wenn es einen Gott gibt,
soll mich auf der Stelle der Blitz treffen. Hg. und mit einem Nachwort von
Carlos Rincón. Berlin: Wagenbach, 1994.
11.
Das Buch ist in Stanford UP erschienen.
12.
Immanuel
Kant. „Was
ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie“.
Göttingen : VR-Verlag, 1967 (im Jahre 1784 in der
„Berliner Monatsschrift“ publiziert).
13.
Gilles Deleuze. Le Pli. Leibniz et le
baroque. Paris: Minuit, 1998.
14.
Barbara
Dröscher /Carlos Rincón (Hg.). Acercamiento
a Carmen Boullosa – Actas del Simposio “Conjugarse al infinitivo”.
Berlin: Ed. Tranvía, 1999.
15.
Barbara
Dröscher /Carlos Rincón (Hg.). La
Malinche – Übersetzung, Interkulturalität und Geschlecht.
Berlin: Ed. Tranvía, 2001.
16.
„El general sí tiene quien lo
lea.“ In: Karl Kohut (Hg.). Literatura colombiana hoy. Imaginación
y barbarie, Frankfurt/ M.: Vervuert Verlag, 1994, S. 84-106.
17.
Einer Revision des Œuvres von Fuentes war die an der FU organisierte
Vorlesungsreihe gewidmet (Barbara Dröscher, Carlos Rincón (Hg.). Carlos
Fuentes’ Welten. Kritische Relektüren. Berlin: Ed. Tranvía, 2003.
18.
1968 im Reclam-Verlag, Leipzig, erschienen.
19.
1981 im Reclam-Verlag, Leipzig, erschienen. Vgl. auch: Carlos Rincón. Nicaragua.
Vor uns die Mühen der Ebene. Wuppertal: Hammer, 1983.
20.
1988 im Verlag Volk und Welt, Berlin, erschienen.
21.
Carlos Rincón. García Márquez,
Hawthorne, Shakespeare, de la Vega & Co unltd. Santafé de Bogotá:
Inst. Caro y Cuervo,
1999.